Achtung: Die Veranstaltung findet online statt!

Glauben und Wissen

Jürgen Habermas' "Auch eine Geschichte der Philosophie"

Mit Prof. Dr. Ingolf Dalferth (Claremont) und Prof. Dr. Gregor M. Hoff (Salzburg)

Samstag 31. Oktober 2020, 8.45-13.00

Die Tagung findet online via Zoom statt. Gerne schicken wir Ihnen den Link nach Ihrer Anmeldung zu.

Jürgen Habermas hat im Herbst 2019 sein kolossales Alterswerk publiziert, eine Relecture der Geschichte der Philosophie vom Gesichtspunkt des Verhältnisses von Glauben und Wissen.

 

Das frühe Christentum steht vor der Frage, ob die griechische Hochkultur – im Kern die Philosophie – verworfen oder integriert werden soll. Die Stimmen, die für eine Integration plädieren, setzen sich durch. In Augustinus kommt die christlich-griechische Synthese zu einem ersten Höhepunkt. Thomas von Aquin erneuert die kanonische Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen, nachdem die Aristotelesrezeption einen veränderten Begriff von Theorie und damit von Wissen notwendig macht.

 

Diese grandiose philosophische Leistung bleibt jedoch nicht lange unbestritten: Duns Scotus und vor allem Wilhelm von Ockham melden Zweifel an und schlagen Alternativen vor. Aber erst mit Martin Luther kommt das „Zeitalter der Weltbilder“ (J.H.) zu einem Ende. Nach Habermas erkennt Luther, dass Glaube wesentlich Vollzug bedeutet. Der Versuch, Glaube in ein System von propositionalen Sätzen zu fassen, führt in die Irre. Das Ende der philosophischen Konstruktionen, die Glauben und Wissen umfassen, macht den Weg frei einerseits für die moderne Naturwissenschaft, andererseits für das „Paradigma der Bewusstseinsphilosophie“ (J.H.): Nicht mehr das Sein, bzw. die Substanz fungiert als der zentrale Begriff, sondern vielmehr das Subjekt. Für Habermas ist Martin Luther denn auch Wegbereiter für Kant wie überhaupt für die neuzeitliche Philosophie.

 

Die Tagung des Forums christliche Studien fokussiert auf ein zentrales Thema des Buches, auf die Epochenschwelle Spätmittelalter/Neuzeit. Nach Habermas endet hier das philosophisch beeindruckende aber objektivierende metaphysische Denken. Glauben und Wissen werden nicht mehr zusammen gedacht, nach Luther können sie es auch nicht mehr. Dass in der habermasianischen Summa Martin Luther und nicht René Descartes (oder Thomas Hobbes) die zentrale Figur des philosophischen Neuanfangs darstellt, ist originell aber auch erklärungsbedürftig und hängt mit der Präferenz des Autors für Performativität zusammen. Von einem theologischen Standpunkt stellt sich u.a. die Frage, was denn für die Theologie zu tun übrig bleibt, wenn das theologische Denken von der Philosophie beerbt worden ist.

 

Unsere Lektüreempfehlung zur Vorbereitung der Tagung

Aus Band 1

S. 23-39: Einleitung zu «Zur Frage einer Genealogie nachmetaphysischen Denkens»
S. 761-764: Einleitung zu «Die via moderna: philosophische Weichenstellungen zur wissenschaftlichen, religiösen und gesellschaftlich-politischen Moderne»

Aus Band 2

S. 9-59: «Die Trennung von Glauben und Wissen. Protestantismus und Subjektphilosophie. 1. Der Bruch Luthers mit der Tradition und der Gestaltwandel der Theologie»

S. 191-211: «Zweite Zwischenbetrachtung: die Zäsur der Trennung von Glauben und Wissen»

 

Tagungsprogramm

  •        8:45  Eintreffen auf Zoom
  •        9:00  Begrüssung J. Corrodi Katzenstein
  •        9:15-10:00  Vortrag G. M. Hoff 

  •       10:00-10:30  Rückfragen und Diskussion (Diskussionsleitung: R. Gubelmann)
  •       10:30-10:45  Pause
  •       10:45-11:30  Vortrag I. U. Dalferth
  •       11:30-12:00  Rückfragen und Diskussion (Diskussionsleitung: M. Egg) 

  •       12:00-12:15  Pause
  •       12:15-12:45  Diskussion zwischen G. M. Hoff und I. U. Dalferth
  •       12:45-13:00  Schlusswort F. Papagni

     

Falls das Interesse besteht, haben wir von 14:00 bis 15:00 eine informelle Gruppendiskussion eingeplant, zu der Sie alle herzlich eingeladen sind. 

Tagungsbericht von Francesco Papagni

Die Diskussion über das kolossale habermasianische Alterswerk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ ist erst angelaufen. Ein Jahr nach der Publikation hat das Forum christliche Studien schon eine Tagung zu diesem Thema organisieren können. Im Zentrum stand der Zweite Band, konkreter das Ende des Zeitalters der Weltbilder und die Entkoppelung von Glauben und Wissen, die Habermas mit Duns Scotus und Wilhelm von Ockham beginnen lässt. Zentral ist dann die Figur Martin Luther: in der Genealogie, die Habermas vorlegt, nimmt der Reformator die Rolle der Schaltstelle ein, weil Luther erkannt habe, dass Glaube kein System von Aussagesätzen vielmehr Lebensvollzug bedeute.

Sowohl Gregor-Maria Hoff (Salzburg) als auch Ingolf Dalferth (Frankfurt am Main/Claremont U.S.A.) setzen in ihren Vorträgen just an diesem Punkt ein, die Wende von Spätmittelalter zu früher Neuzeit. Während Hoff die Hintergründe der lutherischen Position ausleuchtet und zeigt, dass Luther selbst Teil eines grösseren Kommunikationszusammenhangs war, dass zudem das Problem der Beziehung von Glauben und Wissen beim Dominikaner Melchior Cano in seinen loci theologici eine alternative Lösung erfahren hat, stellt Dalferth die habermasianische Interpretation von Luther grundsätzlich infrage. Die vermeintlich lutherischen Dualismen Innerlichkeit/Aussenwelt bzw. Individuum/Staat wiederspiegeln nach Dalferth Problemaufrisse des 19. Jahrhunderts, die auf das 16. zurückprojiziert werden.

Dalferth interpretiert die habermasianische Genealogie als in sich widersprüchlich: einerseits erzählt Habermas eine Säkularisierungsgeschichte, in der das Wissen sich vom Glauben emanzipiert hat und die Transzendenz „aus guten Gründen“ verabschiedet wurde. Andererseits gerät die säkulare Vernunft in tödliche Gefahr an sich selber zu verzweifeln. Sie braucht Religion als „Pfahl im Fleisch“, ohne aber der Theologie irgendwelche kognitive Bedeutung zuzugestehen zu können. Das kommt nach Dalferth davon, dass die Geschichte des Verhältnisses von Glauben und Wissen ganz ohne den Bezug zu Gott erzählt wird. Dabei sind schon die Grundbegriffe das Problem. Die christliche Tradition sprach vom Verhältnis von Glaube und Vernunft – „fides et ratio“ heisst noch die Enzyklika, die Papst Johannes Paul II zu diesem Thema promulgiert hat ­– , nicht von Glauben und Wissen. Die habermasianische Begriffsverschiebung impliziert, dass Glaube eine Schwachform von Wissen sei. Tatsächlich kann der Frankfurter Philosoph Glaube entweder als Für-Wahr-Halten oder als performativen Akt konzipieren, nicht aber als eine andere Form von Wissen. Und vor allem versteht Habermas gemäss Dalferth nicht, dass der christliche Glaube eine eminent lebenspraktische Dimension hat – im Leben erweist sich der Glaube.

Was weder von Hoff noch von Dalferth bestritten wird, ist die Rede vom Nachmetaphysischen Zeitalter. Zwar beginnt Gregor-Maria Hoff mit einem prägnanten Zitat von Jürgen Busche: „Der Metaphysik entkommt man nicht, indem man vermeidet, von ihr zu sprechen“, aber dies führt nicht zu einer Problematisierung der Figur des Endes der Metaphysik, die für Habermas (und nicht nur für ihn) zentral ist.

Die anschliessende Diskussion gestaltete sich lebhaft. Johannes Corrodi gab zu bedenken, dass die Diagnose einer Entkoppelung von Glauben und Wissen in der Neuzeit eine hohe Plausibilität habe: wenn Luther nicht die zentrale Figur gewesen sei, dann müsse gefragt werden, über welche Stationen denn sich dieser Vorgang vollzogen habe. Vielleicht wird sich am Einspruch gegen diese umfassende Säkula-risationserzählung in Zukunft eine alternative Rekonstruktion des Verhältnisses von Glaube und Vernunft entwickeln, denn eines ist wohl unbestritten:  die „Ausdifferenzierung der Wertsphären“ (Jürgen Habermas in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“), die zu einer Trennung von Glauben und Wissen, Staat und Religion, Religion und Wissenschaft geführt hat, ist das Proprium des Westens. Im Moment seiner politischen und ideologischen Infragestellung täte Selbstverge-wisserung mehr denn je Not.

26. November 2020

Flyer Herunterladen

(bezieht sich auf die ursprünglich vor Ort geplante Tagung)

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