Mensch und Natur

Das Ebenbild Gottes im wissenschaftlichen Weltbild

Prof. Dr. Michael Esfeld (Lausanne), 
Prof. Dr. Matthias Wüthrich (Zürich), 
PD Dr. Matthias Egg (Bern)

 

Samstag 11. Juni 2022, 9:00-17:00

Naturwissenschaft und menschliche Freiheit (Prof. Dr. M. Esfeld)

Der dezentrierte Mensch (Prof. Dr. M. Wüthrich)

Gottesstandpunkt oder menschliches Konstrukt? (PD Dr. M. Egg)

Unser Umgang mit Personen unterscheidet sich in vielen Fällen grundlegend von unserem Umgang mit anderen Dingen, die uns in der Welt begegnen. Zum Beispiel ziehen wir einen Menschen, der uns schädigt, für sein Tun zur Rechenschaft, während wir, wenn ein Unwetter dasselbe tut, allenfalls nach Ursachen suchen, aber keine Begründung oder Rechenschaft erwarten. Dieser besondere Status von Personen steht im Zentrum dessen, was in der Philosophie nach Wilfrid Sellars das manifeste Bild des Menschen in der Welt genannt wird und in der jüdisch-christlichen Theologie mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen assoziiert wird. Dem gegenüber steht das wissenschaftliche Menschen- und Weltbild, das im Rahmen von empirisch-wissenschaftlichen Theorien nach kausalen Erklärungen und gesetzmässigen Zusammenhängen von Ereignissen sucht und insofern Personen nicht anders behandelt als andere Objekte in der Welt.

Am Status von Personen zeigt sich somit die Schwierigkeit, das manifeste und das wissenschaftliche Weltbild miteinander in Einklang zu bringen. Gleichzeitig führt der Versuch, mit nur einem der beiden Bilder auszukommen, zu unbefriedigenden Resultaten: Auf der einen Seite lässt das wissenschaftliche Bild, wenn es als vollständiges Bild der Realität betrachtet wird, keinen Raum für das spezifisch Personenhafte, das unser menschliches Selbstverständnis auszeichnet. Auf der anderen Seite würde eine Verabsolutierung des manifesten Bildes zentrale Wahrheitsansprüche wissenschaftlicher Theorien untergraben. Eine friedliche Koexistenz (oder besser noch eine kohärente Gesamtsicht) der beiden Welt- und Menschenbilder ist also gefordert.

Ziel unserer Tagung ist der fruchtbare Dialog zwischen aktuellen philosophischen und theologischen Versuchen, diese Koexistenz zu artikulieren. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf möglichen Wechselwirkungen zwischen der beschriebenen philosophischen Debatte und dem theologischen Thema der Gottebenbildlichkeit liegen. Ähnlich wie das manifeste Menschenbild sieht sich auch die Vorstellung der imago Dei einem reduktionistischen Druck von Seiten des wissenschaftlichen Bildes ausgesetzt, aber dies schliesst nicht aus, dass sie einen kritisch-konstruktiven Beitrag zum Diskurs über die Stellung des Menschen in der Welt leisten kann.

 

Ausführlicher Tagungsbericht

Dass es einen Unterschied gibt zwischen Personen und Naturgegenständen ist intuitiv einleuchtend. Personen können für ihr Tun und Lassen zur Rechenschaft gezogen werden. Naturtatsachen sind hingegen das, was sie sind. Wie aber lässt sich dieser Unterschied wissenschaftlich dingfest machen? Oder handelt es sich bei dieser Intuition vielleicht um eine notwendige Illusion, ohne die wir im Alltag zwar nicht auskommen mögen, die einer naturwissenschaftlichen Betrachtung jedoch nicht standhält?

I.

Der Lausanner Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld präsentiert in seinem Vortrag mit dem Titel «Naturwissenschaft und menschliche Freiheit» eine elegante Lösung, wie Verstand und freier Wille – was der Mensch von anderen Naturgegenständen unterscheidet und Teil der normativen Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft als rationaler Tätigkeit ausmacht – mit einem naturwissenschaftlich-physikalischen Weltbild vereinbar sind. Seine Lösung basiert auf der Unterscheidung zwischen dem, was wir als minimal existierend annehmen müssen, um die Aussagen der Physik über das Universum als wahr oder falsch begreifen zu können, und den komplexen theorieinternen Parametern, die wir benötigen, um das Verhalten dieser grundlegenden Entitäten wissenschaftlich zu beschreiben. Wenn wir so zwischen einer minimalen Ontologie einerseits, bestehend aus materiellen Punkteteilchen in Bewegung und deren relativen Abständen (Geometrie), und den dynamischen Parametern der zeitgenössischen Physik wie Masse, Ladung, Wellenfunktion, etc. andererseits, unterschieden haben, können wir beide Seiten kombinieren und sogenannte Naturgesetze formulieren, die den Zustand des gesamten Universums zu einem bestimmten Zeitpunkt mit dem Zustand des Universums zu jedem anderen Zeitpunkt verbinden. Was aber sind Naturgesetze? Der Konflikt zwischen einem naturwissenschaftlichen Weltbild, das von allen personalen Attributen und subjektiven Faktoren «gereinigt» ist, und dem vom amerikanischen Philosophen Wilfrid Sellars so genannten «manifesten» Weltbild, in dem Affekte, Wünsche, Gedanken und Handlungen von Personen grundlegend sind, tritt gemäss Esfeld immer dann auf, wenn die so genannten Naturgesetze als kausale Kräfte im Universum (miss)verstanden werden. In diesem Fall wird all das, was durch die im Universum herrschenden Naturgesetze und die ursprünglich geltenden Anfangsbedingungen beschrieben wird, durch diese allererst hervorgebracht und determiniert. Somit gibt es im wissenschaftlich beschriebenen Universum auch keine Personen, die Wissenschaft als rationale Tätigkeit betreiben könnten. Dagegen löst sich dieses scheinbare Paradox auf, wenn Naturgesetze nicht ontologisiert werden, sondern als blossen Darstellungsmechanismus bzw. als logisch zusammenhängendes System von Aussagen betrachtet werden, das den bestmöglichen Kompromiss zwischen den epistemischen Idealen von Informationsreichtum und Einfachheit erzielt. Anders gesagt: Wir müssen die Anfangsbedingungen so setzen, dass die von uns formulierten Naturgesetze den Gesamtzustand des Universums zu allen seinen Zeitpunkten so informationsreich und einfach wie möglich beschreiben. Der so beschriebene Gesamtzustand des Universums – und hier liegt die Pointe – umfasst aber auch die Veränderungen in der Verteilung von Materiepunkten, die durch unser eigenes freies Handeln hervorgerufen werden. Das heisst, Naturgesetze und Anfangsbedingungen hängen wie auch immer minimal von dem ab, was wir selbst denken und tun. Damit sind das wissenschaftliche und das manifeste Weltbild gleichermassen ernstgenommen und miteinander versöhnt.

II. 

Der zweite Beitrag zur Tagung trägt den Titel: «Der dezentrierte Mensch. Theologische Anthropologie im Gespräch mit den Naturwissenschaften». In seinem Vortrag geht der theologische Systematiker Prof. Dr. Matthias Wüthrich (Zürich) auf die Frage nach der Gottebenbildlichkeit des Menschen ein. Wüthrich zeigt auf, wie die christliche Tradition in Ost und West seit der Antike bis zur Reformation und darüber hinaus einer kreativen Fehlinterpretation von Genesis 1,26 aufgesessen war. Hier heisst es nämlich: «Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen als unser Bild (hebr. ‘zäläm’), uns ähnlich (‘demut’). Und sie sollen herrschen über die Fische des Meers und über die Vögel des Himmels, über das Vieh und über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die sich auf der Erde regen.» Unter dem vorherrschenden Einfluss der griechischen Philosophie konnte der orthodoxe Kirchenvater Johannes von Damaskus (ca. 650 – vor 754) als einer von vielen diese biblische Schlüsselstelle so aufnehmen, dass das «Bild» auf Verstand und Willensfreiheit, die «[Gott-]Ähnlichkeit» aber auf die menschliche Tugend referierte. Das liess sich dann mit dem so genannten Sündenfall verbinden, in dem zwar die gottähnliche Tugend, nicht aber der menschliche Verstand und die Willensfreiheit, verloren ging. Selbst noch der Reformator Johannes Calvin (1509 – 1564) verortete die Gottebenbildlichkeit des Menschen in dessen Eigenschaften, die ihn vermeintlich «über alle Kreatur» hinaushoben, also Verstand und Willensfreiheit.

Spätestens mit der Verbreitung der modernen Biologie seit Ch. Darwin (1809 – 1882) geriet diese Sichtweise jedoch in die Kritik. Es hatte sich gezeigt, dass im Bereich des Organischen «niedere» und «höhere» Lebensformen ein Kontinuum bilden und keine strikte Zäsur das menschliche Tier von anderen Tieren trennt und damit in die Nähe zu Gott rückt. Damit stellte sich die Frage, ob die Theologie noch am Konzept der Gottebenbildlichkeit des Menschen festhalten konnte, und wenn ja, ob sie es auch sollte. Gerade der traditionell damit verbundene Dualismus von Leib und Seele geriet von verschiedenen Seiten unter zunehmenden Druck, nicht zuletzt in den Bibelwissenschaften selbst. Die Sache verkompliziert sich noch dadurch, dass die Gottebenbildlichkeit des Menschen, wie sich in exegetischer Hinsicht gezeigt hatte, im erwähnten Herrschaftsauftrag Gen 1,26.28 festzumachen ist. Von hier aus war es nur ein kleiner Schritt zu dem durch den Mediävisten Lynn White Jr. 1967 vorgebrachten Vorwurf, dass sich die jüdisch-christliche Tradition massgeblich an der drohenden ökologischen Krise mitschuldig gemacht hatte.

Wie hat nun die christliche Theologie der zweiten Hälfte des 20. Jh. auf diese missliche Situation reagiert? Gemäss Wüthrich dadurch, dass sie sich von ihrem problematisch anthropozentrischen Erbe durch einen Perspektivenwechsel zu distanzieren versuchte. Das heisst, die Gottebenbildlichkeit kann – und muss – dadurch festgehalten werden, dass sie als eine von Gott initiierte Beziehung oder Zuwendung zum Menschen, und nicht als eine intrinsisch menschliche Eigenschaft oder geistiges Vermögen, das den Menschen vom Tier unterscheidet, gedacht wird. Damit verbunden ist die christologische Pointe, dass sich im Leben und Sterben Jesu Christi die paradigmatische Gottebenbildlichkeit ereignet. Es kommt somit zu einer theozentrischen Wende in der Theologie, sprich: die Gottebenbildlichkeit wird als eine durch Gott begründete exzentrische Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott verstanden. In einer sich bewusst ökologisch profilierenden Theologie wird dann auch die Zuwendung und Einwohnung Gottes zu und in allen Kreaturen stärker betont, wie etwa im so genannten Panentheismus. Diese Entwicklung steht für Wüthrich nicht im Widerspruch zur besonderen Gottebenbildlichkeit des Menschen, die nun aber im Sinne eines königlichen Auftrages zur Verantwortungsübernahme gegenüber der extrahumanen Schöpfung verstanden werden muss.

III.

Im dritten und letzten Beitrag mit dem Titel «Gottesstandpunkt oder menschliches Konstrukt? Das wissenschaftliche Weltbild und die Suche nach einer kohärenten Sicht des Menschen in der Welt» unternimmt der Wissenschaftsphilosoph PD Dr. Matthias Egg (Bern) den Versuch, den Sack gewissermassen zusammenzubinden, und die Perspektive der Wissenschaftsphilosophie mit derjenigen der Religionsphilosophie zu kombinieren. Wie sein Doktorvater Esfeld geht Egg vom Aufeinanderprallen der Weltbilder – wissenschaftliches und manifestes – aus. In deren Versöhnung sieht er das grundlegende Kohärenz-Problem der Philosophie, welches eine gewisse Strukturähnlichkeit mit dem Kohärenz-Problem aufweist, das in der christlichen Theologie und einer daran orientieren Religionsphilosophie auftritt. Im ersten Fall scheint es schwer, eines der beiden Bilder als blosses Konstrukt abzutun, um den direkten Konflikt zwischen ihnen zu vermeiden. Auch und gerade Wissenschafter:innen orientieren sich am manifesten Weltbild, wenn sie einander zur Rechenschaft für ihr Denken und Tun ziehen und z.B. wissenschaftliche Argumente für und gegen eine bestimmte Theorie abwägen. Die normative Dimension dieser Tätigkeit ist augenscheinlich. Auf der anderen Seite steht jedoch das wissenschaftliche Weltbild bzw. der wissenschaftliche Realismus, der gemäss dem Philosophen Hilary Putnam (in einer seiner Phasen) die einzige Sichtweise darstellt, in der der Erfolg der Naturwissenschaften nicht auf ein Wunder zurückzuführen ist. Dies deshalb, weil wenn wir in unseren Handlungen systematischen Erfolg haben, die unseren Handlungen zugrundeliegenden Überzeugungen auch etwas mit einer von uns «unabhängigen» Realität zu tun haben müssen. Der wissenschaftliche Realismus ist für Egg ebenso wie für Esfeld deshalb nicht einfach eine blosse Option. Dies bringt Egg zur verbreiteten Rede eines sogenannten «Gottesstandpunktes», der die Möglichkeit objektiver Erkenntnis in den Wissenschaften verbürgen soll. Kann dieser Rede mehr als bloss rhetorischer Sinn abgewonnen werden? Ja, meint Egg, wenn wir sie im Kontext der Theologie betrachten. Dieser Perspektivenwechsel führt ihn zum zweiten Kohärenz-Problem, nämlich wie der Mensch immanentes Ebenbild und Jesus Christus menschliches Urbild eines transzendenten Gottes sein können. Nach einem kurzen Blick auf die klassische Inkarnationstheologie der christlichen Denktradition verweist Egg auf die in dieser Tradition angelegte Möglichkeit, Transzendenz neu und anders zu denken. Göttliche Transzendenz umfasst auf dieser Linie dann selbst noch die Überwindung der Unvereinbarkeit eines Gottesstandpunktes mit der endlichen Gebundenheit an eine raum-zeitliche Perspektive. Der theologische Gedanke der Selbstentäusserung bzw. der Selbstbeschränkung des transzendenten Gottes zugunsten der Möglichkeit von endlichem Wissen führt nahtlos weiter zur Frage, ob es eine ähnliche Selbstbeschränkung auch in der Naturwissenschaft geben kann und soll. Ohne hier auf die Details eingehen zu können, lautet das diesbezügliche Fazit von Egg, dass ein auf der Quantenmechanik basierendes Weltbild keine Vollständigkeit beanspruchen kann, ohne damit zugleich den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit aufgeben zu müssen. Es ist also ein Postulat der Physik selbst, auf die Formulierung eines vollständigen Weltbildes zu verzichten und auf diesem Weg das manifeste Weltbild eliminieren zu müssen. Wie aber kann ein vollständiges Weltbild erreicht werden? Das ist die Frage, die Egg im dritten und letzten Teil seines Vortrags verfolgt. Er tut dies anhand einer Position, die aktuell als theistischer Naturalismus diskutiert wird. In Anschluss an den katholischen Theologen Karl Rahner argumentiert zum Beispiel die Philosophin Fiona Ellis für einen theistisch erweiterten Naturalismus, in dem die Differenz zwischen Gott und Welt auf die Selbstunterscheidung Gottes von der Welt zurückgeführt wird. In einer als Schöpfung Gottes verstandenen Welt haben Naturtatsachen genauso ihren Ort wie Normen und Werte – und sie bietet zudem auch noch Platz für religiöse Erfahrungen von Transzendenz.

IV.

Zum Abschluss dieses Berichts seien dem Verfasser einige kritische Kommentare vergönnt. Die Vorträge von Esfeld, Wüthrich und Egg haben meines Erachtens interessante Stärken und Schwächen aktueller Positionen zum komplexen Verhältnis von Naturwissenschaft, menschlicher Freiheit und göttlicher Transzendenz ans Tageslicht befördert. Die Versöhnung von wissenschaftlichem, manifestem und religiösem Weltbild hat auch heute nichts von ihrer Dringlichkeit verloren – ganz im Gegenteil. Aber sie scheint ihren Preis zu fordern. Im deutlich von der Tradition Kants her geprägten, wiewohl um die religiöse Dimension gekürzten Denkansatz von Michael Esfeld, scheint der Preis aus dem naturalistischen Anspruch zu folgen, dass die Physik vor allen Wissenschaften zuständig sein soll für «all das, was es gibt» (mündliches Zitat). Auf dem Boden eines verkürzten Verständnisses von Welt alias Universum alias Natur als Inbegriff aller aktuell bestehenden und faktisch möglichen Erfahrungstatsachen, führt dieser Denkansatz m.E. zu einer problematischen Verengung unseres Verständnisses von Wissenschaft. Diese blendet nicht nur die hermeneutischen Gegenstandsbereiche von Kultur und Geschichte systematisch aus, sondern hinterlässt – der Rettung von Verstand und Willensfreiheit im naturwissenschaftlichen Weltbild sei’s gedankt – eine abstrakte Trennung von Sein und Sollen. Philosophiegeschichtlich sind damit präzise diejenigen Punkte benannt, die bereits im 19. Jh. ein Hegel am Denken Kants gestört hatten und ihn schliesslich zur Ausarbeitung seiner berühmten Theorie des absoluten Geistes in der Form einer «vernünftigen» Rekonstruktion der christlichen Vorstellung der Selbstentäusserung Gottes führten. So gesehen haben der erste und der letzte Vortrag unserer Tagung unintendiert die auf den aktuellen Stand der Physik gebrachte Rekapitulation eines berühmten Kapitels der modernen Philosophie- und Theologiegeschichte geboten.

Wenn wir heute aber weder Kant noch Hegel bis zum Ende folgen wollen oder können, stellt sich unweigerlich die Frage, die auch in der Diskussion aufgetaucht ist – eine Frage, die Jürgen Habermas zuletzt in seinem opus magnum zum Verhältnis von Glauben und Wissen einer dezidiert negativen Antwort zugeführt hat. Die Frage lautet: Können wir heute, im sogenannt nachmetaphysischen Zeitalter, vernünftigerweise ein vollständiges Weltbild anstreben? Kann es eine wissenschaftliche, philosophische oder theologische Theorie der Welt im Ganzen geben? An diesem Punkt blieben im Gespräch einige Enden offen: Was heisst eigentlich «vollständig»? Dass damit, pace Hegel, nicht die allumfassende und abschliessende («absolute») Wahrheit von Welt, Mensch und Gott gemeint sein kann, scheint deutlich genug. Der Vortrag von Matthias Wüthrich verfolgt in dieser Hinsicht eine klare Linie. Die protestantische Theologie scheint angesichts der historischen Problembeständen der Tradition heute über weite Strecken so zu verfahren, dass möglichst jede Vermischung von wissenschaftlichen-cum-philosophischen mit theologischen Aussagen über Welt, Mensch und Gott vermieden wird. Wenn die klassische theologische Auffassung der Gottebenbildlichkeit des Menschen mit einem wissenschaftlich und philosophisch zunehmend fragwürdig gewordenen Wesen des Menschen als animal rationale verschmolzen war, scheint sich heute in der protestantischen Theologie umgekehrt eine Art «Trennungsmodell» durchgesetzt zu haben, das dem Ideal der kognitiven Vollständigkeit jeder Art von Weltbild – ganz auf der Linie Habermas’ – eine bewusste Absage erteilt. Meines Erachtens hat aber auch diese Entwicklung ihren Preis: Wenn die Frage nach meiner Identität coram Deo – Wer bin ich vor Gott – vollständig von der Frage nach dem objektivierbaren Wesen oder Was des Menschen in naturwissenschaftlicher Perspektive getrennt wird, macht sich die Theologie von dieser Seite einerseits zwar unangreifbar. Das lässt sich als Gewinn verbuchen. Aber es ist andererseits ebenso fraglich, wie die Theologie dann als die kritische Orientierungswissenschaft im Haus der Wissenschaften auftreten kann, die sie zu sein beansprucht. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, käme sie nicht umhin, ein Selbstverständnis analog dem der Philosophie zu entwickeln und von der Theologie der Mathematik bis zur Theologie der Geschichte und der Gesellschaft die Grundbegriffe jeder einzelnen wissenschaftlichen Disziplin im Licht ihrer eigenen Differenz von unendlichem Gott und endlicher Schöpfung zu rekonstruieren. Dass ihr dazu nicht nur die Gelder, sondern mehr noch der gesellschaftliche Rückhalt und die intellektuelle Stosskraft fehlen, liegt auf der Hand.

Der Vortrag von Matthias Egg setzt an dieser Stelle die Akzente anders. Er zeigt sich von allen Referenten am wenigsten beeindruckt durch das von Habermas statuierte Metaphysikverbot bzw. die behauptete Trennung von religiösem Glauben und wissenschaftlichem Wissen. Sein Beitrag ist der (wage-)mutige Versuch, sich einem möglichst umfassenden Weltbild, das auch noch der religiösen Erfahrung einen intellektuellen Ort bietet, durch sukzessive Erweiterungsstufen anzunähern. Allerdings beginnt auch er, wie schon der Beitrag Esfelds, mit der klaren Selbstpositionierung zugunsten eines wissenschaftlichen Realismus, der zugleich eine Art Naturalismus sein möchte. Dieses Vorgehen scheint mir angesichts der aktuellen Grosswetterlage in der Philosophie zwar naheliegend, aber nicht ohne Gefahren. Gerade der in wissenschaftsphilosophischen Debatten oft evozierte Konflikt zwischen Realismus und Anti-Realismus alias Konstruktivismus führt m.E. öfters in die Irre, als dass er die Dinge wirklich zu klären hilft. Das hängt mit der in diesen Debatten oft nachwirkenden Trennung von Subjekt und Objekt zusammen, die üblicherweise mit dem «Begründer» der modernen Philosophie René Descartes assoziiert wird, und später durch Kant in gewisser Hinsicht noch verschärft wurde.

Ich möchte meine Vorbehalte gegenüber diesem Zugang am Weltbegriff bzw. der Idee einer «unabhängig» existierenden Realität illustrieren, die in den Debatten um Realismus/Anti-Realismus in den Wissenschaften oft herumgeistert. Wenn man dem Streit zwischen wissenschaftlichem Realismus und Anti-Realismus Glauben schenken will, muss man sich irgendwann entscheiden zwischen einer Position, die wissenschaftlichen Aussagen objektiven Erkenntnischarakter zumutet, und einer Position, der gemäss wissenschaftliche Theorien keine verlässliche Auskunft über die Welt «da draussen» geben können, sondern letztlich bloss unsere eigenen subjektiven Vorstellungen und historisch wandelbaren Repräsentationen einer solchen Welt zum Gegenstand haben. Wissenschaftliche Aussagen und Theorien sind dann allenfalls nützliche Konstrukte ohne eigentlichen Realitätsgehalt. Diese Darstellung der Situation hat nun aber die Tendenz, einen wichtigen Punkt zu verschleiern. Will sagen: das sogenannte wissenschaftliche Weltbild, das auf der Basis der Physik aufbaut, hat nicht die Welt oder das Universum zu ihrem Gegenstand, sondern umfasst das, was man anfangs des 20. Jh. einen wissenschaftlichen Gegenstandsbereich genannt hatte. Der wissenschaftlichen Gegenstandsbereiche aber sind so viele, wie es Wissenschaften gibt, deren Grundbegriffe nicht auf die Grundbegriffe einer anderen Wissenschaft reduziert werden können. Das heisst: allein im Zug einer «weltanschaulichen Verlängerung» (M. Wüthrich) der Naturwissenschaften, und dem entsprechenden philosophischen Ideal einer unity of science, kommt der Physik der Erkenntnisprimat oder gar das Wahrheitsmonopol im Haus der Wissenschaften zu. Schliesslich hatte schon Aristoteles gelehrt, dass jede Wissenschaft ihren eigenen Begriffen und methodischen Prinzipien zu folgen hat. Freilich dürfen diese nicht zu den universalen Naturgesetzen der Physik in Widerspruch geraten. Das Ernstnehmen dieser Forderung macht aber weder die Biologie noch die Psychologie noch die Kunstgeschichte noch die Theologie, um nur einige Beispiele zu nennen, zu Verlängerungen der Physik. Wie mir scheint, hat dieser Punkt zunächst wenig bis nichts mit der Frage von wissenschaftlichem Realismus vs. Anti-Realismus/Konstruktivismus/Instrumentalismus zu tun. Darüber, dass alles, was Gegenstand menschlicher Erfahrung ist oder sein kann, auch eine körperlich-materielle Dimension besitzt, braucht der vortheoretische Alltagsverstand nicht erst durch die Naturwissenschaften oder einen philosophischen Materialismus alias Szientismus belehrt zu werden. Er hat es immer schon gewusst. Vermeintlich «rein» geistige Entitäten oder Zustände wie platonische Ideen, körperlose Seelen, einfache Sinnesdaten oder ausschliesslich mentale Einstellungen wie Propositionen, entspringen vielmehr einem metaphysischen Dualismus als der vortheoretischen Erfahrung. Dieser religiöse oder philosophische Dualismus wird auch dann nicht weniger problematisch, wenn dessen Kreaturen in der aktuellen wissenschaftlichen Landschaft auf ein entsprechendes materielles Trägersubstrat im Gehirn reduziert werden sollen. Von «rein» geistigen wie von «rein» materiellen Dingen kann der vortheoretische Alltagsverstand keine Erfahrung haben – eben darum, weil es sich um theoretische Gegenstände metaphysischer Natur handelt. Um sich der Unmöglichkeit der Erfahrbarkeit solcher Gegenstände zu vergewissern, braucht es wiederum keine wissenschaftliche oder philosophische Theorie. Es genügt, wenn wir versuchen, den sprachlichen und logischen Gehalt der Behauptung einer solchen Erfahrung abzuziehen und dann schauen, was davon übrigbleibt…. gerade mal nichts. Konfusion ist nun aber immer dann vorprogrammiert, wenn der wissenschaftliche Realismus den vortheoretischen Alltagsverstand zum Kronzeugen der «unabhängigen» Existenz der Welt «da draussen» in seinen Dienst nehmen will. Dann wird die Alternative zwischen Realismus vs. Anti-Realismus schief und führt unweigerlich in die Irre. Denn die Realität von wissenschaftlichen Gegenstandsbereichen – z.B. das physikalische Universum – ist weder die eines vorfindlichen praktischen Gegenstandes, mit dem wir im alltäglichen Leben vertraut sind, noch die eines «blossen» theoretischen Konstrukts. Das physikalische Universum («die Welt») besteht vielmehr in nichts anderem als den Erfahrungsdingen selbst – unter einem bestimmten theoretisch-wissenschaftlichen Aspekt betrachtet.

Interessanterweise kann an dieser Stelle m.E. gerade der Denkansatz Esfelds zu mehr Klarheit verhelfen. Wenn wir die Referenten wissenschaftlicher Aussagen aller Disziplinen, inklusive Physik, als geometrische Punktteilchen mitsamt ihren variablen Abstandsverhältnissen bestimmen, ist jede Wissenschaft in der Lage, ihre eigenen dynamischen Parameter in diesen Referenten zu lokalisieren. Dass geometrische Punktteilchen in Bewegung als Bestand (Extension) einer wirklich minimalen Ontologie in der Physik zu materiellen Teilchen und ihren Abstandsrelationen fortbestimmt werden können (Intension), ist gewissermassen eine Tautologie – wenn auch eine äusserst informationsreiche. Sie wird ermöglicht durch den physischen Aspekt der menschlichen Erfahrungsrealität, der sich in Grundbegriffen wie Masse, Ladung, usw. niederschlägt, ohne die Experimente und Theoriebildung in der Physik kaum denkbar sind. Aber geometrische Punktteilchen sind nicht per se materiell. Sie sind nicht Teil einer «unabhängig» existierenden Welt, deren Existenz zu bezeugen der Alltagsverstand gegen seinen Willen und besseres Wissen gezwungen werden soll. Freilich ist es dem antiken oder modernen Atomisten unbenommen, diese minimale Ontologie physikalisch aufzuladen. Aber dabei handelt es sich um eine philosophische Option, die noch nicht einmal benötigt wird, den Erfolg der modernen Naturwissenschaften zu erklären. Analog zur metaphysisch entschlackten Physik kann dann auch die Biologie die bewegliche Ansammlung geometrischer Punktteilchen gemäss ihren eigenen funktionalen Grundbegriffen zu Organismen und ihren ökologischen Nischen fortbestimmen. Und so weiter geht die Reihe, für alle begrifflich und methodisch irreduziblen Wissenschaften. Damit wird der faktisch existierenden Pluralität unterschiedlicher wissenschaftlicher Zugänge zur menschlichen Erfahrungsrealität als Natur und Kultur in weitaus realistischer Art Rechnung getragen als ein residualer metaphysischer Physikalismus-cum-wissenschaftlicher Realismus dies zu leisten vermöchte. Die Realität der menschlichen Erfahrungswirklichkeit braucht (kann) nicht durch einen wissenschaftlichen Realismus «gerettet» werden, so wenig wie sie durch einen wissenschaftlichen Konstruktivismus eliminiert werden kann. (Auch wenn diese Denkansätze weitreichende gesellschaftliche Folgen haben können). Denn nochmals: es sind die Erfahrungsdinge selbst, deren dynamische physikalische, biologische, psychische, soziale etc. Struktur sich einer entsprechenden wissenschaftlich-theoretischen Untersuchung erschliesst. Die Dinge selbst erschliessen sich uns im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte als A, B, C, D… Wenn wir dieser Linie folgen, fällt der scheinbar unausweichliche Gegensatz zwischen Realität und «blossen» Konstrukten der Wissenschaft dahin. Es sind eben diese Konstrukte alias Gegenstandsbereiche alias modale Aspekte der Erfahrung, die uns – pace Kant – wissenschaftlichen Zugang zu den Dingen selbst verschaffen. Von diesen Gegenstandsbereichen ist keiner fundamentaler als der andere. Im Interpretationshorizont des philosophischen Theisten sind sie alle gleichermassen Teil der endlichen Schöpfung, und damit durch die Selbstunterscheidung Gottes von der Welt in ihrer Existenz verbürgt.

Johannes Corrodi

 

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