Freitag 25. März 2022, 9:00-17:00
Am 17. Juli 1990 hatte die US-amerikanische Regierung das Jahrzehnt des Gehirns (Decade of the Brain) ausgerufen, mit dem Ziel, die neurowissenschaftliche Forschung zu intensivieren. In Deutschland wurde von 2000 bis 2010 eine ähnliche Initiative lanciert. Aktuell ist das durch die EU mitfinanzierte Human Brain Project eines der grössten Forschungsprojekte weltweit.
Nun sind wissenschaftliche Ergebnisse eines, gesellschaftliche Interpretationen und deren Folgen aber etwas anderes. Längst haben sich die verführerisch bunten Bilder vom menschlichen Gehirn in das kollektive Unbewusste eingegraben. In Anlehnung an ein älteres Motto der Marketingwelt können wir sagen: «The Brain Sells». Davon zehren auch Vertreter:innen eines naturalistischen Welt- und Menschenbildes, deren Neurophilosophie nicht nur populär ist, sondern oft auch als alternativlose Wahrheit präsentiert wird. Menschen und andere Lebewesen haben nicht nur ein Gehirn, wir sind unser Gehirn, heisst es dann apodiktisch. Wir sind wörtlich in einem Teil unseres Körpers eingesperrt und von der Welt und unseren Mitkreaturen entfremdet. Umgekehrt wird das Gehirn neurophilosophisch zu einem Quasi-Subjekt vermenschlicht, das hinter unserem Rücken vermeintlich die Fäden in unserem Leben zieht.
Abseits des neurophilosophischen Common Sense hat in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend aber auch eine weniger reduktive Forschungs- und Interpretationsperspektive Interesse auf sich gezogen: die der verkörperten Kognition (embodied cognition). Der Schwerpunkt dieser Tagung liegt denn in der vertieften Auseinandersetzung mit den Chancen und Grenzen einer multi-aspektuellen Sichtweise auf den menschlichen Organismus als Körper und als verleiblichte Subjektivität.
Wie kann auf dem Hintergrund eines bis heute nachwirkenden mechanistischen Welt- und Menschenbildes die kausale Koppelung und Vermittlung «geistiger» und «körperlicher» Faktoren im menschlichen Gehirn als Zentralorgan gedacht werden? Welche Auswirkungen hat dieses Paradigma auf die Sicht des Menschen als wesentlich auf Transzendenz bezogenes Lebewesen?
Tagungsbericht von Francesco Papagni
Die Erforschung des Gehirns hat in den letzten zwei Jahrzehnten mit Hilfe grosszügiger staatlicher Förderprogramme enorm an Fahrt gewonnen. Parallel dazu sind die Neurowissenschaften zu neuen Leitwissenschaften aufgestiegen, namentlich auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Mit Begriffen wie Neuroökonomie, Neuropsychologie, ja sogar Neurophilosophie wird das neue Paradigma angezeigt: vieles soll jetzt mit Applikation von Methoden und Erkenntnissen aus der Gehirnforschung erklärt werden können. Gesellschaftlich geht diese Entwicklung mit einer Skepsis gegenüber dem Menschen, wie er ist, einher. Manche erklären den Menschen für ein defizitäres Wesen, das verbessert oder gar überwunden werden soll. Unsere Tagung im Januar 2021 befasste sich mit diesen Fragen.
Dieses Mal ging Prof. Dr. Thomas Fuchs das Thema von der philosophischen bzw. biologischen Seite her an. Mit dem neurowissenschaftlichen Ansatz ist oft ein Reduktionismus verbunden, sodass der Geist für überflüssig erklärt wird, denn mit der „Hardware“ Gehirn liessen sich die wissenschaftlichen Fragestellungen beantworten. Interessanterweise teilt Fuchs die Kritik am althergebrachten Leib-Seele-Dualismus: ein Geist, der unabhängig vom körperlichen Substrat existieren soll, ist tatsächlich für ihn undenkbar. Neurowissenschaftler wie z.B. der Gehirnforscher Gerhard Roth kritisieren eine Position, die so von niemandem mehr vertreten wird.
Zunächst einmal haben wir menschliche Wesen einen Körper und einen Leib. Der Körper ist der von einem Beobachterstandpunkt wahrnehmbare und wissenschaftlich untersuchbare Gegenstand in Raum und Zeit, während der Leib uns in der ersten Person bewusst wird in Form des Leibbewusstseins, das uns begleitet. Vom Beobachterstandpunkt lässt sich z.B. beschreiben, wie ein Mensch, der etwas Heisses berührt, die Hand schnell zurückzieht. In der Ersten-Person-Perspektive spüren wir den Schmerz, der für uns wesentlich zu dieser Reaktion hinzugehört. Aus der Bobachterposition sind Reaktionen erkennbar, der Schmerz aber nicht. Als Philosoph und Mediziner will Thomas Fuchs beide Aspekte unserer Existenz berücksichtigen und hat ein nicht-reduktionistisches Modell des Menschen entwickelt. Körper und Leib sind für ihn Aspekte des Gleichen, zwei Seiten einer einzigen Medaille. Er knüpft an den von Kant (wieder) in die Anthropologie eingebrachten Begriff des Organismus an.
Bewusstsein ist dabei nicht etwas Hinzukommendes, sondern intrinsisch mit dem lebenden Wesen verbunden. Der Begriff embodied cognition zeigt dies an. Viele Probleme in der Frage nach dem Bewusstsein ergeben sich durch das Ausgehen von falschen Prämissen: es gibt kein isoliertes einzelnes Wesen, das aus body und mind besteht, wobei der Geist dann in der Maschine eingeschlossen wäre und diese irgendwie steuere. Der Mensch ist nach Fuchs ein lebendes, im wechselseitigen Austausch mit seiner Umgebung und mit anderen stehendes Wesen – nur diese holistische Zugangsweise erlaubt ein adäquates Verständnis.
So sympathisch diese „Verteidigung des Menschen“ (so ein Buchtitel von Thomas Fuchs) auch ist, so anspruchsvoll ist es, eine biologische mit einer philosophischen Zugangsweise zu verschränken. Biologie ist eine objektivierende Naturwissenschaft, Phänomenologie eine das Subjektive untersuchende philosophische Methode: wie lassen sich die beiden Paradigmen vermitteln? Das ist nicht nur eine erkenntnistheoretische sondern auch eine ontologische Frage: wird ein Dualismus oder ein Monismus vertreten? Die Responsen von Dr. Reto Gubelmann und Prof. Dr. Johannes Corrodi (beide foχs) formulierten Anfragen. Es entstand eine lebhafte Diskussion, in der auch eine christliche Perspektive zur Geltung kam: Der Auferstandene trägt die Wundmale als Beweis seiner leiblichen Erfahrung am Kreuz und auch als Antidot zu allen Positionen, welche Inkarnation spiritualisieren wollen. Im Zuge der intensiven christlichen Rezeption des Platonismus, der eine vom Körper unabhängige Seele kennt, ist diese Einsicht manchmal verdunkelt worden. Schaut man sich hingegen Bilder vom Auferstandenen in der Kunst an, so wird dieser mit den Stigmata dargestellt, erinnert sei nur an den Isenheimer Altar in Colmar und an Masaccios grandiosen Auferstandenen in Borgo San Sepolcro. Die Kunst bewahrt diese „Wahrheit“, wenn es sein muss auch gegen den Zeitgeist.
Die beiden Hauptvorträge von Prof. Th. Fuchs sind als Video verfügbar: Teil I und Teil II