Wie lässt sich unter heutigen Bedingungen ein philosophisch und wissenschaftlich haltbarer Begriff von Wahrheit denken? Die Frage stellt sich auf dem Hintergrund folgender Beobachtung: Der Begriff der Wahrheit wird oft entweder „kleingeschrieben“ (R. Rorty) und somit als unwichtig abqualifiziert oder dann in den Dienst eines szientistisch enggeführten Erkenntnisbegriffs genommen. Die einen möchten am liebsten auf den Begriff der Wahrheit verzichten, die anderen ein naturwissenschaftliches bzw. philosophisch-naturalistisches Monopol auf ihn erheben. Um diese Situation besser verstehen zu können, lohnt es sich ins 19. Jh. zurückzublicken. Insbesondere lohnt der Blick auf einen der schärfsten Kritiker des damaligen Wissenschafts- und Zivilisationsglaubens, der sich in weiten Teilen Europas verbreitet hatte: Friedrich Nietzsche.
Nietzsche und der Begriff der Wahrheit
Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsthema zieht sich durch viele seiner Schriften hindurch und wirft unzählige exegetische Detailprobleme auf. Unumstritten ist jedoch eine Spannung im Denken Nietzsches, die ein grelles Licht auf die heutige Situation wirft. Nietzsche hatte ein grosses Interesse an der Entwicklung naturwissenschaftlicher Theorieansätze, besonders auf dem Gebiet der Evolutionsbiologie und im Bereich dessen, was man Bio-Psychologie nennen könnte. Mit diesen aufblühenden Disziplinen verband er – wie viele seiner intellektuellen Zeitgenossen – die Hoffnung, sich von einem überkommenen religiös-christlichen Wirklichkeitsverständnis und Menschenbild zu emanzipieren.
Aber die Sache hatte einen Haken. Der damalige Wissenschafts- und Zivilisationsglaube hatte mit dem als „Mythos“ bzw. Aberglaube demaskierten religiös-theologischen Erbe mehr als nur Eines gemeinsam. Sowohl der Wissenschaftsglaube wie auch der traditionell religiös-christliche Glaube orientierten sich am Ideal der Wahrheit, ohne dass der Wert dieses Ideals – der Wert von Wahrheit – selbst noch einmal kritisch hinterfragt wurde. Nietzsches berühmt-berüchtigte Figur des „asketischen Priesters“ (in: „Zur Genealogie der Moral“) gewinnt seine Macht über die Massen der Gläubigen gerade dadurch, dass er sich auf eine im wörtlichen Sinn „ab-solute“ – d.h. von allen anderen möglichen lebensbestimmenden Zielen unabhängige – Wahrheit beruft. Es kommt angeblich nur darauf an, dieser einen Wahrheit zu folgen.
Warum ist Wahrheit dem Irrtum vorzuziehen?
In Nietzsches Sicht steht auch eine „säkular“ gewordene Philosophie und Wissenschaft – oft unbewusst – noch im Schatten des lebensverneinenden, asketischen Ideals des Priesters des einen Gottes. Wichtig ist allein die philosophische, wissenschaftliche oder ethische Wahrheit, an der sich das „aufgeklärte“ Subjekt orientieren soll. Dabei werde systematisch übersehen, dass kognitive Ziele (Wahrheitserkenntnis) Teil einer weiteren Klasse von Lebenszielen sind. Weil Wahrheit aber niemals unabhängig von allen möglichen „Interessen“, d.h. von einem triebgestützten System von Bedürfnissen ist, stellt sich die Frage nach dem Wert von Wahrheit. Dabei ist es für Nietzsche nicht ausgemacht, dass theoretische „Irrtümer“, ästhetische „Illusionen“ und religiöse „Fiktionen“ dem menschlichen Leben weniger Kraft und Nahrung geben sollten als das Ideal der Wahrheit.
Wie also lässt sich ein philosophisch und wissenschaftlich haltbarer Begriff von Wahrheit denken, der durch die Kritik Nietzsches hindurch gegangen ist? Wie sieht ein Begriff von Wahrheit aus, in dem die theoretischen und die lebenspraktischen Seiten von Wahrheit zusammengedacht werden können? Wie verhält sich die Wahrheit in Philosophie und Wissenschaft zur Wahrheit in der Kunst und zur Wahrheit (in) der Religion? Diese und verwandte Fragen werden uns in unserem nächsten Workshop mit dem nordamerikanischen Philosophen Lambert Zuidervaart beschäftigen.