Spannungen – eine sportliche und intellektuelle Würdigung

Kilometer 73 von 76. 2’500 Höhenmeter, 9 Stunden laufen, gehen und sprinten, wunderschöne Bergpassagen, viele erbauende und einige weniger erbauende Momente und ungezählte Glukose-Gels liegen hinter mir. Nur noch drei Kilometer vor mir, keinerlei Höhenunterschiede. Ein Teil von mir würde am liebsten jetzt gleich ins Gras liegen, einfach entspannen. Der andere Teil macht weiter, mal um mal spannen sich die Oberschenkel-Muskeln, heben die Füsse, tragen mich vorwärts. Diese Spannungen zu vermeiden, würde bedeuten, aufzugeben, still zu stehen.


Auch Spannungen zwischen einzelnen Überzeugungen, an denen man festhalten will, beispielsweise zwischen dem eigenen religiösen Glauben und dem Glauben an gewisse wissenschaftliche Einsichten – oder an vermutete Konsequenzen dieser Einsichten, sollten bisweilen in diesem positiven Lichte betrachtet werden. Diese Spannungen sind notwendig, um uns weiter zu bringen, um neues intellektuelles Terrain zu betreten und unseren Blick zu schärfen für unklare oder unbegründete Aspekte der eigenen Position. Eine Weltanschauung, in der alles zusammen passt, in der keine Spannungen übrig bleiben, lässt wenig zu Denken übrig; gerade die Geschichte der Wissenschaft zeigt, wie fruchtbar Spannungen zwischen einzelnen Überzeugungen sein können.


Das bedeutet nicht, dass ein Weltbild umso fruchtbarer und realitätsnaher ist, je mehr Spannungen es enthält. Auch hier trägt die Analogie zum Langstreckenlauf: Gerade in den letzten Kilometern kämpfen viele Läuferinnen und Läufer mit Krämpfen, der vollständigen und permanenten Anspannung eines Muskels, häufig der Wade. Dann geht auch nichts mehr. Zudem kann ein Muskel reissen, wenn er der Belastung, also der Spannung nicht mehr standhält. Bekannterweise lässt sich das Problem des Krampfes mit Dehnen lösen, und auch wenn sich im Denken zwei Überzeugungen scheinbar unversöhnlich gegenüber stehen, kann es sehr hilfreich sein, die Geschichte etwas zu lockern: müssen das Buch Genesis und zeitgenössische Evolutionstheorie wirklich einander direkt gegenübergestellt werden?


Muskelfaserrisse hingegen sind häufig das Resultat mangelnder Vorbereitung: Der Muskel hält die Spannung nicht mehr durch und reisst entzwei. Bei einigen jungen evangelikalen Christinnen und Christen ereignet sich nach meiner Wahrnehmung ein solcher intellektueller Muskelfaserriss, wenn sie mit dem Studium beginnen. Sie sind nicht vorbereitet darauf, dass ihre eigenen religiösen Überzeugungen in ein Spannungsverhältnis mit dem kommen, was an den säkularisierten europäischen Universitäten weitgehend unhinterfragter Common Sense ist. Als Konsequenz davon ziehen sie sich ganz an einen der beiden Pole zurück.


Natürlich hat die Analogie ihre Grenzen: Die trainierte und motivierte Läuferin kann die Spannungen nach eigenem Gutdünken erzeugen, die intellektuellen Spannungen, mit denen gerade Christinnen und Christen an europäischen Universitäten konfrontiert werden, sind da, ob wir es wollen oder nicht. Doch mein Vorschlag ist, diese Spannungen für einmal als Vorteil zu betrachten. Sie zwingen uns sozusagen dazu, unser Weltbild in einem Masse zu überdenken, wie es sich für säkulare Denkerinnen und Denker nicht gleichermassen aufdrängt: als Vertreter des ideologischen common sense fehlt ihnen der alltägliche Anlass dazu.