Wahre Freunde und Behauptungen — Ein Zeugma?

Dieser Beitrag baut auf einer Replik auf, die der Autor auf einen Vortrag des nordamerikanischen Philosophen und Adorno-Spezialisten Lambert R. Zuidervaart gegeben hat. Im Vortrag, der im Rahmen eines von foΧs organisierten Workshops statt fand, geht es, kurz gesprochen, um die Fragen, was Wahrheit ist, und weshalb sie wichtig ist. Im Folgenden gehe ich vor allem auf die erste Frage ein, die gemäss Kant seit Urzeiten die Logiker in die Enge getrieben hat: Was ist Wahrheit?

Heutzutage scheinen zwei sich widersprechende Tendenzen weit verbreitet: einerseits ein allgemeiner, ewiger Begriff von Wahrheit, der häufig (oder ausschliesslich) wissenschaftlichen Erkenntnissen zugestanden wird, und der dann gegenüber anderen Überlegungen zum selben Thema ausgespielt wird. Der locus classicus dieses Ausspielens in der jüngeren Geistesgeschichte des Westens ist eine darwinistisch-physikalistische Erklärung der Entstehung des Menschen gegenüber der christlichen Schöpfungslehre. Auf diese Auffassung hat bereits Johannes Corrodi im letzten Beitrag aufmerksam gemacht. In anderen Kontexten — und vielleicht von anderen Personen — scheint ein pluralistischer, subjektiver Wahrheitsbegriff in Anschlag gebracht zu werden, so beispielsweise wenn zwei Bekannte miteinander über Heilkunde, Mobilfunkabonnemente oder politische Einstellungen diskutieren. In solchen Situationen hört man oft: «Das ist jetzt deine Wahrheit.» oder: «Es muss ja für dich stimmen.» Dieser Wahrheitsbegriff ist dann kaum mehr der Rede wert – geschweige denn in der Lage, als Ideal im Alltag oder in der Forschung zu dienen.

In der akademischen Philosophie widerspiegelt sich diese Uneinigkeit zwischen objektivistischen und subjektivistischen Ansätzen, doch es gesellt sich noch eine andere wichtige Differenz hinzu. Hier geht es um die Frage, welche Dinge überhaupt wahr sein können. In der so genannten analytischen Philosophie herrscht die Meinung vor, dass nur Behauptungen wahr oder falsch sein können. Wie der Autor an der Tagung gelernt hat, ist dies aber kein Gemeinplatz in der so genannt kontinentalen Philosophie: dort wird häufig der eigentliche Ort der Wahrheit in anderen Dingen gesehen.

Zuidervaarts Ansatz möchte beide Spaltungen überwinden. Den universal-ahistorischen Wahrheitsbegriff gewisser Wissenschaftsfreunde, der typischerweise mit einem auf Behauptungen eingeschränkten Anwendungsbereich dieses Begriffes einhergeht, hält er für zu eng und zu statisch. Er ist der Meinung, dass auch andere Dinge als (vornehmlich wissenschaftliche) Behauptungen wahr sein können. Deshalb ist die Phrase «Wahre Freunde und Behauptungen» für ihn kein Zeugma, also eine Verwendung eines Wortes in zwei grundverschiedenen Bedeutungen, die dann durch Bezugswörter, welche diese unterschiedlichen Bedeutungen verlangen, sichtbar gemacht werden. Ein Beispiel wäre: «Eine frisch gestrichene und im Privatkundengeschäft tätige Bank». Die vorherrschende Lehre in der so genannten analytischen Philosophie würde aber gerade behaupten, dass es sich beim Titel dieses Textes um ein Zeugma handelt. Gleichzeit hält es Zuidervaart für verfehlt, Wahrheit als etwas ewiges, also statisches zu betrachten. Er spricht sich vielmehr dafür aus, dass Wahrheit sich über die Geschichte hinweg entfalten und erschliessen kann. Schliesslich ist Zuidervaart ebenso unzufrieden mit Ansätzen, die Behauptungen das Wahrsein fast gänzlich absprechen wollen, und in denen Wahrheit aufhört, ein Ideal, ein Ziel akademischen und anderweitigen Tuns zu sein.

Die Frage nach der Art von Dingen, die wahr sein können, ist gerade für den christlichen Glauben von erheblicher Bedeutung, sagt Jesus doch: «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben». Was immer genau Jesus war, er war keine Behauptung. Entweder enthält also die Phrase «Jesus und meine Behauptung, dass Schnee weiss ist, sind wahr», ein Zeugma so wie die Phrase mit der Bank von oben, oder aber ein Wahrheitsbegriff, der nur auf Behauptungen anwendbar ist, muss als zu eng aufgegeben werden.

Jedoch: wie jede(r), der oder die schon mal versucht hat, ein Ikea-Möbel zusammenzubauen, weiss, ist nur durch das Aufgeben noch nichts geschafft. Wie würde also ein Wahrheitsbegriff aussehen, der sowohl auf Behauptungen als auch auf Personen anwendbar ist? Zuidervaart beginnt damit, seine Opposition zur analytischen Tradition abzumildern, indem er zugibt, dass kein Wahrheitsbegriff auf beide passt; doch nur um gleich darauf hinzuzufügen, dass er sich eine Idee von Wahrheit vorstellen könnte, unter die sowohl Personen als auch Behauptungen subsumiert werden können.

Die Pointe an dieser Verschiebung des Fokus von Begriffen auf Ideen besteht darin, dass gemäss Zuidervaart letztere keine Definition brauchen, um erklärt zu werden. Eine Definition besteht darin, einzeln notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen für die Zuschreibung des entsprechenden Begriffes anzugeben. Ein Beispiel: Nehmen wir an, die korrekte Definition für Katze wäre «Katzen sind Säugetiere, die gerne mit Socken spielen.» Dann könnten wir sicher sein, dass alle und nur diejenigen Lebewesen Katzen sind, die sowohl ihren Nachwuchs stillen als auch der erwähnten Freizeitbeschäftigung nachgehen.

Gemäss Zuidervaart ist nun aber für Ideen keine Definition notwendig. Es reicht, wenn man, nun ja, ein Moment, oder eine Metapher angeben kann, die allen Dingen gemeinsam ist, auf welche die entsprechende Idee zutrifft. Zuidervaart hat sich hier also keine einfache Aufgabe gestellt. Für einen in klassischer und sogenannt analytischer Philosophie aufgewachsenen Zeitgenossen wie den Autor tönt es so, als ob hier jemand, gut Schweizerisch gesprochen, «De Füfer und S’Weggli» haben möchte: Einerseits möchte Zuidervaart sagen, dass dieselbe Idee der Wahrheit sowohl auf Freunde wie auch auf Behauptungen zutreffen kann, andererseits möchte er nicht die Aufgabe gewärtigen, eine Definition eines Begriffes zu geben, der auf beide gleichermassen zutreffen würde.

Jedoch sollte man sich bewusst sein, dass gerade die grossen Würfe in der Philosophie, wenn man sie aus der Perspektive der zu überwindenden Tradition betrachtet, genau so aussehen können. Zuidervaarts Projekt wird daran gemessen werden müssen, ob es ihm gelingt, begreiflich zu machen, oder vielleicht besser, verständlich zu machen, wie ein und dieselbe Idee der Wahrheit sich in unterschiedlichen Bereichen auf unterschiedliche Weise manifestieren kann. Das setzt letzten Endes nichts weniger als eine grundlegende Revolution in der Begriffslogik voraus, die dann eben auch zu Ideenlogik würde. Oder vielleicht bestünde die Revolution darin, der Begriffslogik mit ihren Definitionen eine Ideenlogik beizustellen?