Buch im Fokus: «The Territories of Science and Religion» von Peter Harrison

Territories of Science and Religion Buchumschlag

Jede Epoche hat ihre Mythen. Ein im wörtlichen Sinn grundlegender Mythos der westlichen Moderne ist/war die Vorstellung des voraussehbaren Endes aller Mythen. Dieser reflexiv gewordene Mythos trägt den Namen ‹Fortschritt› und ist eng an ein sogenannt ‹wissenschaftliches Weltbild› gebunden. Wesentlicher Bestandteil davon ist die Idee eines ‹immer schon› existierenden, wesensnotwendigen und daher unvermeidlichen Konfliktes zwischen Naturwissenschaft und Religion bzw. Theologie. 

Wie jeder Mythos gab der moderne Fortschrittsmythos (Zusammen-)Halt und gesellschaftliche Orientierung. Und er verfügt auch heute über ein erstaunliches Beharrungsvermögen, selbst wenn zentrale Elemente davon historisch überholt und intellektuell diskreditiert sind. Der Grund für dieses Beharrungsvermögen dürfte eine Art kulturelle Amnesie bzw. die Verdrängung dessen sein, was zur Bedrohung unseres modernen Selbstbildes werden könnte – die Tatsache, nämlich, dass die Entstehungsbedingungen der heutigen Welt weit in der Vergangenheit liegen und die Vergangenheit insofern nicht ‹überwunden› ist als das Totgesagte oder für überwunden Gehaltene sich jederzeit bemerkbar machen kann.
Die Monographie von Peter Harrison – hervorgegangen aus den Gifford-Lectures 2011 – ist nicht der erste Versuch, die moderne Vorstellung eines permanenten, weil gewissermassen überzeitlichen Konfliktes zwischen Naturwissenschaft und Religion ad acta zu legen. Doch erfüllt Harrison die Aufgabe so gründlich wie kaum ein anderer heute tätiger Historiker auf dem faszinierenden Gebiet von Science & Religion. Die These des Buches lässt sich rasch zusammenfassen: Der ausserhalb der einschlägigen Forschung auch heute oft behauptete unausweichliche Konflikt zwischen Naturwissenschaften und Religion/Theologie entspricht nicht irgendwelchen historischen Tatsachen, sondern ist eine Funktion der modernen Kategorien ‹Religion› und ‹Wissenschaft› selbst. Der Konflikt beruht mit anderen Worten auf der gesellschaftlichen Verdinglichung der Bedeutung der gleichnamigen sprachlichen Ausdrücke und bezieht sich weder auf unabhängig davon gegebene, objektive Realitäten noch auf transkulturelle oder transhistorische Konstanten.

 

Um seine These zu illustrieren, stellt der Autor den Vergleich zu einem behaupteten Konflikt zwischen Israel und Ägypten im 17. Jahrhundert her. Die Pointe ist die, dass kein solcher Konflikt stattgefunden haben kann, da die entsprechenden politischen Entitäten zu der Zeit noch nicht einmal existierten. Kein Verweis auf historische Landkarten vermag an diesem Befund etwas zu ändern. Denn nicht die geographischen Territorien als solche, sondern die symbolische Abgrenzung und Konstruktion der jeweiligen Landstriche – damals Teile des ottomanischen Reiches – als distinkte nationalpolitische Gebilde steht hier zur Debatte. Ähnlich das Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft: Diese hat es nicht einfach immer schon gegeben – ebenso wenig wie ein bestimmtes Verhältnis zwischen ihnen – obwohl die verschiedenen menschlichen Tätigkeiten, die mit diesen Kategorien zu einer begrifflich-artifiziellen Einheit zusammengebunden werden, nahezu seit Anbeginn der dokumentierten Geschichte belegt sind.

 

Was ist das Fazit? Wir sollten vermeiden, die modernen Kategorien von Religion und Wissenschaft auf vergangene Epochen zurückzuprojizieren, so als hätten diese ‹Dinge› immer schon existiert oder die früheren Ausdrücke religio und scientia dasselbe bedeutet wie deren modernen Übersetzungen. Wer das dennoch tut – und bis zu einem gewissen Grad sind wir gemäss Harrison alle dazu verurteilt – sät und erntet Konfusion. Die den Bereich von Science&Religion leitende Fragestellung nach dem ‹richtigen› Verhältnis dieser Bereiche bzw. Disziplinen ist deshalb immer dann falsch gestellt und irreführend, wenn sie von Religion und Wissenschaft als transhistorischen oder transkulturellen Konstanten ausgeht. Religion und Wissenschaft sind nicht mit ‹natürlichen Arten› (natural kinds), wie zum Beispiel mit chemischen Elementen oder natürlichen Gruppen von Lebewesen, vergleichbar. Vielmehr handelt es sich um sprach- und kulturgeschichtlich gewachsene Kategorien zur Ordnung und Deutung eines riesigen Spektrums distinkter menschlicher Aktivitäten. Die Folgen dieser revidierten Sichtweise sind weitreichend. Wenn sie zutrifft, gibt es z.B. keine Antwort auf die Frage, ob Religion zu Gewalt führe, oder ob Religion evolutionsbiologisch erklärt werden könne. Es gibt schlicht keinen Gegenstand Religion, der einer solchen Erklärung zugänglich wäre.


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