Gibt es religiöse Erfahrung?

Die im Titel dieses Blogs gestellte Frage erscheint auf den ersten Blick als dumme Frage. Natürlich gibt es das, werden die meisten sagen wollen. Wer kennt nicht irgend jemanden, der oder die von sich behauptet, irgendwann einmal eine religiöse Erfahrung gehabt zu haben? Vielleicht bin ich ja selbst diese Person…

Die Probleme beginnen dort, wo wir uns fragen: Was wird denn in einer so genannt religiösen Erfahrung erfahren? Wer sich einmal eine Reihe möglicher Antworten vor Augen geführt hat, – Gott, das Göttliche, das Heilige, eine höhere Macht, der Kosmos, die Jungfrau Maria, meine unsterbliche Seele, der Gott Dionysius, das Sein, das Nichts, die Energie, Buddha, das Karma, die Ahnen, das Unbewusste etc. – kann sich einem Anflug von Verwirrung kaum mehr erwehren.

Vermeintliche Auswege

Natürlich gibt es nicht wenige Menschen, die sich vor dieser Verwirrung so zu schützen versuchen, dass sie religiöse Erfahrung insgesamt für Nonsense erklären oder als Illusion abstempeln. Gott oder irgend etwas anderes auf der Liste „existiert überhaupt nicht“, lautet eine oft gehörte Reaktion. Eine ähnliche intellektuelle Abkürzung wird von denen gesucht, die behaupten – auf welcher Basis bleibt meist unklar – dass „alles“ Genannte auf ein und dasselbe hinausläuft. Hinter den genannten Dingen würde sich eine aller religiösen Erfahrungen gemeinsame Realität verbergen. Nur, so die unausweichliche Rückfrage, mit welchem der genannten oder ungenannten Elemente soll diese Realität identisch sein?

Eine subtilere Methode, die Probleme von sich fernzuhalten und die Kontrolle über die Dinge vermeintlich zu behalten besteht darin, eine „wissenschaftliche Distanz“ gegenüber allen möglichen Antworten auf die Frage nach dem Was religiöser Erfahrung einzunehmen. Ein streng wissenschaftlicher Zugang zu religiösen Erfahrungen und Überzeugungen besteht dann, wie ebenfalls oft zu hören ist, in einem methodischen Atheismus, der sich bezüglich Wesen und Existenz des in einer religiösen Erfahrung vermeintlich Erfahrenen nicht festlegen will, sondern angeblich neutral bleiben muss.

Aber auch diese Antwort bleibt intellektuell unbefriedigend. Denn worin soll eine Erfahrung überhaupt bestehen, wenn von deren Gegenstandsbezug abstrahiert wird? Freilich kann eine Erfahrung nicht mit ihrem bewusst reflektierten, begrifflich-theoretisch artikulierten oder sprachlich kommunizierten Gehalt identifiziert werden. Aber ebensowenig kann eine Erfahrung – gleich welcher Art – ohne Gegenstandsbezug auskommen. Dieser gehört per Definition zum Begriff der Erfahrung, ähnlich wie zu einem Zeichen ein Bezeichnetes gehört. Doch wie kann dieser Gegenstandsbezug gefasst werden?

Ein Lösungsversuch

Hier kommt uns die philosophische Tradition der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts zu Hilfe. Deren Grundeinsicht und Ausgangspunkt besteht darin, dass alles Bewusstsein auf etwas gerichtet ist. Anders gesagt: Bewusstsein ist immer durch Intentionalität charakterisiert (Edmund Husserl). Der intendierte Gegenstand mag real oder ideal, wirklich oder fiktiv, logisch möglich oder unmöglich, begrifflich fassbar oder „unerklärlich“ sein – jedenfalls ist er nicht nichts. Die ontologische Aufgabe der Philosophie besteht dann genau darin, die Struktur des jeweiligen Gegenstandbezuges einer konkreten Erfahrung, einer Überzeugung, eines Affekts, eines Wunsches etc. zu erhellen. Wie Martin Heidegger sagte: Wie viel Schein, so viel Sein. Eine phänomenologische Zugangsweise hat sich gemäss Heidegger bloss an dem auszurichten, was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt – will sagen: ohne sich an einer bestehenden wissenschaftlichen Theorie, einem religiösen Glauben oder einer politischen Weltanschauung messen lassen zu müssen. Als Grenzfall soll auch noch das in den Blick kommen, das sich dadurch zeigt, dass es sich gerade nicht in dieser oder jener positiv feststellbaren Art und Weise zeigt (etwa „das Nichts“).

E. Levinas – Kritik am Seinsdenken

Nun hat das phänomenologische Denken unbestreitbar viel zur Erhellung der Struktur von menschlicher Erfahrung beigetragen – selbst wenn diese (in sich sehr vielfältige) philosophische Tradition immer wieder durch einen ontologisch-weltanschaulich aufgeblähten Naturalismus bzw. Szientismus in Frage gestellt wird und aus den Institutionen des Wissens verdrängt zu werden droht. Doch die Kritik an der Phänomenologie ist nicht allein durch eine weltanschaulich gefärbte Machtpolitik des Wissens bedingt. Kritik kommt auch von innen – und sie trifft den eigentlichen Kern der Sache.

Einer der radikalsten und einflussreichsten Kritiker des Seinsdenkens im 20. Jh war Emmanuel Levinas (1906-1995), ehemaliger Schüler von Husserl und Heidegger. Seine These lautet, dass sich das phänomenologische Seinsdenken und die Transzendenz Gottes wechselseitig ausschliessen. Religiöse Erfahrung ist deshalb zumindest im Kontext monotheistischer Religionen ein Widerspruch in sich selbst. Warum?

Intentionalität ist für Levinas immer eine Form von Gegenwart bzw. Vergegenwärtigung. Auch etwas Vergangenes oder Zukünftiges erscheint nur durch einen Akt der Vergegenwärtigung. Bewusstsein und Gegenwart sind also praktisch synonym. Aber, und das ist hier entscheidend, alle Gegenwart gründet letztlich in der Gegenwart des Bewusstseins bei und mit sich selbst – also in dessen Selbstgegenwart – wie besonders deutlich im Denken Husserls sichtbar wird. Wie schon bei Kant ist alle und jede Erfahrung damit durch unsere Subjektivität mitkonstituiert. Alles was erfahrbar ist, verdankt sich in einem gewissem Sinn uns selbst. Alle Erfahrung führt zurück zur Spontaneität eines Ich, das sich selbst gesetzt hat.

Wenn das cogito oder ich denke als Bedingung der Möglichkeit hinter jeder – auch religiösen – Erfahrung steht, lässt diese ihren intentionalen Gegenstand grundsätzlich in ein Anwesendes verwandeln. Das Resultat besteht für Levinas in einer Immanenz, die sich nicht mit der radikalen Transzendenz des Anderen verträgt. Das ist für den jüdischen Denker auch der Grund, warum die westliche (griechische) Philosophie die Transzendenz Gottes nach und nach aus sich herausgedrängt hatte und selbst zum Inbegriff von Immanenz geworden ist. Das, was erscheint – was sich in der Diktion Heideggers von ihm selbst her zeigt – erscheint letztlich auf Geheiss eines Denkens, das vermeintlich in nichts anderem als sich selbst gründet. Denken und Intelligibilität bzw. Manifestation des Seins sind letztlich ein und dasselbe, da die Dinge, um entdeckt zu werden, im Licht des Seins erscheinen müssen.

Damit ist ein Motiv angesprochen, das sich besonders auch in der protestantischen Theologie des 20. Jh. festgesetzt hat, von Levinas aber nochmals radikalisiert wird. Im Horizont des Seins geht es immer um Sammlung, Eingemeindung, Vereinnahmung, Totalisierung… Gottes Transzendenz entzieht sich dagegen jedem menschlichen Zugriff, jeder Objektivierung, jeder Thematisierung. Gott ist kein Seiendes unter anderen, auch nicht das höchste Seiende. Noch ist er das Sein des Seienden. (Und dennoch gehört die Idee Gottes bzw. der Unendlichkeit für Levinas zu den Begriffen, die das Denken erst möglich machen).

Was gemäss Levinas allein zum Bruch mit dem Seinsdenken führen kann ist der Andere. Denn in die ethische Beziehung zum menschlichen Anderen bin ich als selbstbewusstes Subjekt immer schon verstrickt. Der Anspruch des anderen Menschen nimmt von mir Besitz, noch bevor ein Akt des Erfahrens, Glaubens oder Wissens meinerseits hinzutritt. Dem Ruf des Anderen kann ich mich nicht entziehen. Er geht nicht auf eine positive oder negative Entscheidung des Ich zurück, sondern macht diese erst möglich. Der Anspruch des Anderen ist somit auch nicht einem Wahrheits- oder Wissensanspruch vergleichbar, den ich als rationales Subjekt zuerst überprüfen müsste – oder auch nur könnte. Mit Platon gesprochen: Das Gute „ist“ jenseits des Sein. Deshalb lässt es sich gemäss Levinas nicht mit dem Wahren vermitteln. Das Unvordenkliche lässt sich nicht in eine Präsenz verwandeln. Gott kann somit allein nach dem Modell der ethischen Beziehung zum Anderen gedacht werden. Wohlverstanden: Zu irgend einem anderen, oder zum Erstbesten, wie Levinas sagt.


Offene Fragen

Wie nicht anders zu erwarten, hat auch der Denkansatz von Levinas Fragen, Kritik und Widerspruch auf sich gezogen. So hat zum Beispiel Jacques Derrida auf die grundlegende Schwierigkeit hingewiesen, dass der Bruch mit dem Seinsdenken auf die unhintergehbare Anziehungskraft eben dieses Denkens vertrauen muss, um selbst an Überzeugunskraft zu gewinnen. Andere wiederum haben darauf aufmerksam gemacht, dass Levinas beinahe dogmatisch wirkende Vorbehalte gegen alle religiöse Erfahrung und Mystik von Motiven und Gedanken Gebrauch machen, die in der Mystik selbst angelegt und verwurzelt sind. Der Versuchung, Gott durch das eigene Bewusstsein manipulieren zu wollen, waren sich die grossen MystikerInnen der abrahamitischen Traditionen bekanntlich selbst am stärksten bewusst. Deshalb sollte man sich in diesem Zusammenhang vor einem immer noch verbreiteten Zerrbild in Acht nehmen, demgemäss religiöse Erfahrung und Mystik quasi per Definition darauf hinauslaufen, Gott kontrollieren zu wollen. Diese „protestantische“ Abwehrreaktion erinnert an das Verhalten eines Flachländers, der sich weigert, auch nur einen kleinen Hügel zu besteigen, weil die Gefahr, im Hochgebirge abzustürzen, bekanntlich sehr gross ist. Dann ist Kritik am anthropozentrischen Charakter von Levinas Denkansatz laut geworden, etwa auf dem Hintergrund der Sorge um das Wohl nicht-menschlicher Tiere – eine Kritik, die ausgeweitet werden könnte auf die Ausblendung der gesamten Schöpfungsdimension bzw. deren Kontraktion auf einen einzigen Punkt in der Figur des „Anderen“.

Die Einwände liessen sich fortführen. Doch eines ist klar: der Impetus, der vom Denkansatz Levinas ausgeht, ist noch lange nicht philosophisch gegessen und verdaut. Die allzu selbstverständliche Rede von „religiöser Erfahrung“ hat ihre Unschuld verloren.