Jesus am March for Science

In den vergangenen Tagen ist das ohnehin schon vielschichtige Verhältnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit noch um einen Aspekt reicher geworden. Natürlich ist es nicht so, dass zuvor nie Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler für politische Anliegen demonstriert hätten, aber mit dem am 22. April weltweit abgehaltenen March for Science ist die Wissenschaft selber zu einem politischen Postulat geworden, für das Menschen zu Tausenden auf die Strasse gehen.

Was auch immer man von derartigem politischen Engagement der wissenschaftlichen Gemeinschaft halten mag, es erinnert uns an eine wichtige Tatsache, die wir allzu leicht vergessen: Dass nämlich die Existenz von so etwas wie Wissenschaft keineswegs selbstverständlich ist. Obwohl wir wissenschaftlichen Erkenntnissen gemeinhin universale Gültigkeit zuschreiben, basieren sie auf Forschungsprozessen, die sich in ganz bestimmten historischen Kontexten abgespielt haben. Offensichtlich gab und gibt es Gesellschaften, die wissenschaftlichen Fortschritt ermöglichen, und solche, die dies nicht tun.


In „Das Buch der Mitte“ (Original: „The Book That Made Your World“, erschienen 2011) geht der indische Autor Vishal Mangalwadi unter anderem der Frage nach, warum moderne Naturwissenschaft ausgerechnet im Europa des 17. Jahrhunderts entstanden ist, während die Anlagen dazu auch in vielen anderen Kulturen vorhanden gewesen wären. Ein erster Teil der Antwort auf diese Frage besteht in der These, dass das christliche Verständnis der Welt als Gottes Schöpfung eine bessere Grundlage für die Suche nach Naturgesetzen liefert als etwa die Vorstellung, dass die Welt selbst von Gottheiten bewohnt ist (Animismus) oder dass die Welt ein aus sich selbst existierender Kosmos ist (Materialismus). Diese Teilantwort ist allerdings weder neu noch restlos überzeugend, da sie beispielsweise nicht erklärt, warum die moderne Naturwissenschaft nicht in der islamischen Kultur entstanden ist, die ja ebenso auf dem Glauben an einen Schöpfergott aufbaut und eine Wissenstradition aufweist, die im Mittelalter der christlichen in manchen Bereichen überlegen war.

Als zweiter Teil der Antwort auf die genannte Frage kommt deshalb eine vielleicht etwas spekulative, aber durchaus prüfenswerte These ins Spiel, die den Unterschied des Christentums zu anderen monotheistischen Religionen ins Zentrum rückt. Ausgangspunkt dafür ist die Feststellung, dass der von der Antike sowohl ins islamische als auch ins christliche Mittelalter übernommene Rationalismus dazu tendiert, die formal-logischen Aspekte des Erkenntnisprozesses zu betonen und dabei die praktisch-empirischen zu vernachlässigen. Damit auf dieser Basis empirische Wissenschaft aufblühen kann, bedarf es deshalb entscheidend „un-griechischer“ Elemente. Der Gedanke einer geschaffenen (statt aus sich selbst existierenden) Welt ist ein solches Element, das aber, wie oben bemerkt, offenbar noch nicht ausreicht. Ein für die Naturwissenschaft zentrales neues Element der frühen Moderne war bekanntlich die Entdeckung des Experiments als Mittel zur Wissensgewinnung. Dies wiederum setzt voraus, dass die forschende Person sich nicht mit passivem Beobachten von Naturvorgängen begnügt, sondern bereit ist, sich mit präparierendem Eingreifen in die Natur die Hände schmutzig zu machen.

Könnte es sein, dass die in ihrer Radikalität einzigartige Interaktion Gottes mit der materiellen Welt, nämlich seine Menschwerdung in Jesus Christus, hierfür eine Grundlage liefert, wie sie in keiner anderen Weltanschauung anzutreffen ist?

Zugegeben, die Entstehung der modernen Naturwissenschaft ist ein zu komplexes Phänomen, als dass sie auf den Einfluss eines christlichen Dogmas reduziert werden könnte. Dies zeigt aber nur umso deutlicher, wie wichtig es ist, die Wurzeln des so oft als selbstverständlich hingenommenen Phänomens namens „Wissenschaft“ gründlich zu untersuchen. Wenn uns die neu empfundene Bedrohung der Wissenschaften, die den
March for Science inspiriert hat, dies in Erinnerung ruft, dann lässt sich sogar der letzten US-Präsidentschaftswahl etwas Positives abgewinnen.