Wer ist schuld?

Einem winzigkleinen Virus gelingt es, ein urmenschliches Verhalten ans Licht zu bringen: Die Suche nach einem Schuldigen, wenn es nicht so läuft, wie wir es wollen. Die Vorwürfe sind vielgestaltig: Der Bundesrat interveniere zu stark. Oder er interveniere zu wenig. Daneben kursieren diverse Verschwörungstheorien. Jemand muss daran schuld sein, dass in der reichen Schweiz mit einem der teuersten Medizinsysteme das Pflegepersonal an den Anschlag kommt, Menschen in Alterszentren vereinsamen und sterben, Kinder aggressiv werden, Künstler*innen kein Einkommen mehr haben, Restaurants und sogar ein Spital schliessen müssen.  

Im so genannten dunklen Mittelalter wurden die Juden als angebliche Brunnenvergifter für die Pest verantwortlich gemacht. Duncan Mc Lean (vgl. NZZ vom 28.02.2020) zeigte in seinem Gastkommentar in der NZZ auf, wie die unterschiedlichen Namen für die Syphilis auf das Phänomen hinweisen, Schuldige für das Übel in der Welt zu suchen: «Neapolitanische Krankheit» hiess Syphilis bei den Franzosen, «Franzosenkrankheit» bei den Italienern, für die Russen waren die Polen die Schuldigen, bei den Holländern die Spanier, bei den Chinesen die Japaner und die Türken sprachen von der «Christenkrankheit».

Sündenbock-Ritus

In seinem Buch Je vois Satan tomber comme l’éclair entwickelt der Kulturanthropologe René Girard eine Theorie der menschlichen Gewalt, zu der auch die Suche nach einem Sündenbock gehört. Das mimetische Begehren steht im Zentrum seiner Theorie. Der Mensch ahmt neben Techniken auch Affekte nach und neben Liebe auch Gewalt. Der Satan bringt nach Girard durch das Entfachen des mimetischen Begehrens die Gewaltspirale in Bewegung – den Kampf aller gegen alle. Zugleich hat er auch die Macht, die Gewalteskalation zu stoppen, indem er das «Alle gegen alle» zu einem «Alle gegen einen» wandelt. Der Satan löst den Opfer-Mechanismus aus – die Ermordung eines Sündenbocks.

«Corpus Christi» (2019) - Der Film

In Jan Komasas Film «Corpus Christi» wird dieser gewalttätige Opfer-Mechanismus auf eindrückliche Weise aufgezeigt – und durchbrochen. Der Film beginnt und endet mit zwei Gewaltszenen in einem Gefängnis für jugendliche Straftäter: mit einer brutalen Vergewaltigung zu Beginn und einem blutigen Kampf auf Leben und Tod am Schluss. 

Der Film erzählt die Geschichte von Daniel, der wegen eines Gewaltverbrechens im Jugendgefängnis in Warschau seine Strafe absitzt. Er lässt sich von den Predigten des Gefängnispriesters berühren, darf als Ministrant wirken, und möchte selbst Priester werden. Ein Wunsch, der ihm aufgrund seiner kriminellen Vorgeschichte nicht gewährt werden kann. Dennoch findet er sich für kurze Zeit durch eine Reihe von Umständen in der Rolle eines Landpriesters wieder, als er auf Bewährung freikommt. Anstatt in einem Sägewerk im ländlichen Polen mit der Arbeit zu beginnen, zieht es ihn in die Dorfkirche, wo er sich als Priester ausgibt und die Vertretung des kranken Priesters übernimmt.

Priestertum aller Gläubigen

Seine erste Predigt, die er rauchend auf dem Bett sitzend des Nachts vorbereitet, ist eine charismatische Kopie derjenigen des Gefängnispriesters. Die ersten Beichten hört er ab, indem er auf dem Handy den Online-Beichtratgeber konsultiert. Seine unkonventionelle, authentische Art zu predigen und seelsorgerlichen Rat zu geben, überrascht die durch einen tragischen Autounfall traumatisierte Dorfgemeinde. Daniel beginnt den Unfall mit der trauernden Dorfgemeinde aufzuarbeiten Dabei wird die Schuldfrage immer virulenter. Die Witwe des Autofahrers, der angeblich den Unfall verursacht und damit sechs junge Menschen im anderen Auto getötet haben soll, wird von den Dorfbewohnenden geächtet. Die Asche ihres Mannes darf nicht auf dem Dorffriedhof beigesetzt werden. Je länger der Aufarbeitungsprozess dauert, desto deutlicher kristallisiert sich jedoch heraus, dass alle in Schuld verstrickt sind. Der «falsche» Priester Daniel hat die Gabe, mit Mitgefühl, zarter Durchlässigkeit, aber auch radikalen Worten und nicht zuletzt auf dem Hintergrund seiner eigenen Vergangenheit, die Menschen zu bewegen, hinzuschauen, sich zu erkennen. Er wird immer mehr zum «wahren» Priester im eigentlichen Sinn – zum Heilsvermittler.

Verraten von einem ehemaligen Mithäftling fliegt die Sache an Fronleichnam auf – dem katholischen Hochfest des Leibes und Blutes Christi, an welchem die bleibende Gegenwart Jesu Christi im Sakrament der Eucharistie gefeiert wird. Daniel muss zurück ins Gefängnis. Bevor er geht, outet er sich im Gottesdienst vor versammelter Gemeinde stumm als Sträfling, indem er sich «entäussert» und seinen nackten, tätowierten Oberkörper zeigt.

Keine Auflösung der Spannung

Zurück im Gefängnis soll er zum Opfer des von allen gefürchteten, hochgewachsenen Bonus werden. Der Bruder von Bonus ist der Grund für Daniels Gefängnisstrafe. Diesen hat er in einem Streit nicht vorsätzlich getötet. Bonus zwingt Daniel zum Kampf. Zeitgleich zu diesem brutalen Kampf im Warschauer Jugendgefängnis findet im Dorf auf dem Lande Versöhnung statt. Die Witwe wird wieder in die Dorfgemeinschaft aufgenommen.

Im Laufe des Films verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen gut und böse, Schuldigen und Unschuldigen. Es gelingt dem Regisseur jedoch, diese Spannung als Spannung stehen zu lassen. Sie wird nicht wegpsychologisiert. In der Figur des «falschen» Priesters, der durchaus auch hart auszuteilen vermag, Drogenexzessen und One-night-stands nicht abgeneigt ist, zeigt sich diese Spannung am deutlichsten: Brutalität und Gewalt stehen neben ungemeiner Empathie, Zartheit und Standfestigkeit.

Wer bin ich?

Der Satan – um in den Worten Girards zu sprechen – verliert dann seine Macht, wenn der Mensch seine eigenen Schuldverstrickungen erkennt und annimmt, wenn er aufhört, sie zu externalisieren und nach aussen zu projizieren. So gesehen wirft uns «Corpus Christi» zurück auf uns selbst, weitet aber zugleich den Blick auf die Hoffnung, die durch die Gewalt hindurch aufscheint.  

Der Film besticht unter anderem dadurch, dass er keine Sekunde lang moralistisch ist. Ungeschönt zeigt dieser Film den Menschwerdungsprozess. Daniel besticht als «Priester», weil er in seinen Predigten seine eigenen Ängste und Zweifel äussert. Mit blossen Händen verspritzt er das Weihwasser in der Luft und fragt: «Herr, wie soll ich in deinem Namen handeln, wenn mich mein eigenes Leben überfordert?». Die «Heiligkeit» des Protagonisten zeigt sich nicht in permanent gutem Verhalten geschweige denn darin, dass er sein Leben im Griff hätte. Daniel liebt und er kämpft. «Heilig» ist er, weil er seiner tiefsten Sehnsucht folgt.