Glauben und Wissen, Fazit

Chantal Götz, Aktivistin für Frauenrechte in der katholischen Kirche, fragte auf Facebook vor Weihnachten 2020: Was fehlte, wenn Christinnen und Christen fehlten?

Viele Antworten, die sie erhalten hat, kreisen in der einen oder anderen Form um das Thema Nächstenliebe. Sicher ist Nächstenliebe ein Charakteristikum des Christentums, aber kein alleiniger Besitz unserer Religion. Auch das Judentum und der Islam predigen die Zuwendung zum Fremden, zur Witwe und zum Armen, wie es an mehreren Stellen im Alten Testament verlangt wird. Überdies gibt es viele säkulare Menschen, die bewundernswerte Werke der Solidarität erbringen.

 
Bürger zweier Welten

Meine Antwort zielt auf etwas anderes. Christen sind Bürger zweier Welten. Sie sind im hier und jetzt engagiert, wissen aber zugleich, dass das hier und jetzt nicht die einzige Realität ist. Es gibt eine göttliche Realität, in deren Licht die irdische zu betrachten und auch zu beurteilen ist. Lassen wir einen Moment die Frage, ob denn diese göttliche Realität «wirklich» existiert beiseite und konzentrieren wir uns auf die Folgen einer solchen Bürgerschaft zweier Welten. Da für Christinnen und Christen Gott der absolute Herr ist, werden alle irdischen Herren relativ. Das bedeutet nicht, dass z.B. staatliche Autoritäten nicht anerkannt würden, aber diese können nur innerhalb ihrer Grenzen anerkannt werden. Befehlen sie Handlungen, die gegen göttliche Gebote verstossen, sind diese Befehle null und nichtig.

 
Das Christentum hat ein Elefantengedächtnis

Dies ist jedoch ein extremes Bespiel. Im Alltag gibt diese Heimat in zweien Welten Orientierung und Halt. Intellektuellen Moden begegnet man eher reserviert, denn das Christentum hat schon zweitausend Jahre Geschichte vorzuweisen: vieles, was heute als neu und attraktiv angepriesen wird, ist in diesen zweitausend Jahren unter einem anderen Etikett schon aufgetreten und ist auch abgehandelt worden. Seelenwanderung? Hat Irenäus von Lyon in „Gegen die Häresien“ abgehandelt und erledigt. Wir sind im 2. Jahrhundert nach Christus. Transhumanistische Visionen, wie sie Yuval Harari in „Homo Deus“ entwickelt? Sind eine neue Version der Gnosis, mit der schon die frühe Kirche hat fertigwerden müssen.

 
Ein innerer Vorbehalt, aber keine Abkehr vom tätigen Leben

Orientierungslosigkeit und Angst sind Merkmale des gegenwärtigen Zeitalters. Das Christentum bietet demgegenüber einen Standpunkt und vor allem einen inneren Vorbehalt, der das Leben in einem anderen Licht erscheinen lässt. Im Gegensatz zu anderen Kulten, die den Rückzug von der Welt als Lösung für den Einzelnen predigen, bedeutet dieser innere Vorbehalt keine Abkehr vom tätigen Leben: wir sollen uns bemühen, so gut wir es nur können, aber die Welt ruht nicht auf unseren Schultern.

Noch wichtiger für mich ist die Offenheit auf Transzendenz hin. Für mich das ultimative Argument für das Christentum. Während Atheisten und Agnostiker ebenfalls solidarisch handeln, ebenfalls eine Idee des guten Lebens verwirklichen können, leben sie doch in einer einzigen Dimension. Christinnen und Christen leben in zwei Dimensionen. Analogien dazu finden sich ausserhalb der religiösen Sphäre. So kann man auch ohne Musik leben, aber wer musikalisch ist, macht Erlebnisse und hat Erfahrungen, die unmusikalischen Menschen verschlossen bleiben.

 
Nur wer Schach spielt, versteht Schach wirklich

Musikalische Menschen haben Schwierigkeiten, unmusikalischen Zeitgenossen zu erklären, was Musik wirklich bedeutet. So haben gläubige Menschen Schwierigkeiten zu erklären, was die Dimension des Glaubens wirklich bedeutet. Es ist wie beim Schachspiel: erst wer auf einem gewissen Niveau spielt, versteht Schach wirklich.