Die NZZ und Giorgio Agamben – ein seltsames Paar

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben gehört zu den eigenwilligen Denkern unserer Zeit. Seine Bücher zeichnen sich durch beeindruckende Gelehrsamkeit aus und sind schwierig einzuordnen. Eine besondere Aufmerksamkeit für Eschatologie und Apokalyptik paart sich mit kontroversen politischen Analysen, die mit Begriffen wie „ Ausnahmezustand“, das „nackte Leben“ und „Biopolitik“ operieren. Im Folgenden will ich kein Résumé seiner Positionen wiedergeben, sondern vielmehr über den Umstand nachdenken, dass die Neue Zürcher Zeitung, kaum hatte die Pandemie Europa erreicht,  Giorgio Agamben eine Bühne zur Verfügung gestellt hat, die er offenbar à discrétion bespielen kann.

Ausnahmezustand

Dass die Staaten des Westens immer mehr von der Gewaltenteilung abrücken, dass die Exekutive immer mehr Macht gewinnt und wir de facto in eine Situation des Ausnahmezustandes geraten, wo das Recht aufgehoben ist und die Exekutive mit Verordnungen durchregiert, hat Agamben lange vor Corona vertreten. Mit der Pandemie sieht er sich bestätigt. Und tatsächlich haben die Parlamente in der ersten Welle ihre Arbeit unterbrochen, während die Behörden Notmassnahmen eingeleitet haben. Aber auch in diesem ersten Schockmoment kann von Ausnahmezustand im genauen juristischen Sinne nicht gesprochen werden: die Medien kommentierten die ergriffenen Massnahmen kritisch, ohne dass die Polizei ihre Redaktionen stürmte. Niemand wurde verhaftet und ohne Anklage festgehalten. Bald nahmen die Parlamente wieder ihre Arbeit auf.

Die Rolle der NZZ

Ab Mitte März letzten Jahres erschien für eine gewisse Zeit rund alle vierzehn Tage ein Artikel von Agamben als „Gastkommentar“ und im Feuilleton – eine singuläre Kadenz, zumal für einen Philosophen. Was mag die NZZ bewogen haben, ihm eine carte blanche zu erteilen? Die fundamentale Kritik am Staat, der  totalitäre Züge annimmt und im Namen der Gesundheit uns allen die Freiheit nimmt, ist die Extremform von Staatskritik. Die NZZ , die sich als Hüterin des Liberalismus versteht, kritisiert den überbordenden Staat seit jeher. Auf den ersten Blick passt das zusammen. Nur ist Agamben fundamental in seiner Staatsfeindlichkeit: der Rechtsstaat ist für ihn eine Maske, hinter der sich der nackte Wille zur Macht verbirgt. Der Liberalismus weiss aber, dass Freiheit eine Ordnung braucht und diese (Rechts-)Ordnung nur der Staat gewährleisten kann. Auch wer einen Minimalstaat vertritt, teilt diese Grundeinsicht. Dem Leitblatt des Liberalismus im deutschsprachigen Raum scheint diese Wahrheit fraglich geworden zu sein. Wie ist es sonst zu erklären, dass der Chefredaktor Eric Gujer im Hinblick auf die Covid-Massnahmen von einem „Zwangsstaat“ sprechen kann?

Eine brandgefährliche Entwicklung

Coronadiktatur ist die Parole jener Demonstrationen, welche die Einschränkungen sofort aufheben möchten. Das ist von «Zwangsstaat» nicht weit entfernt.  An diesen Demonstrationen marschieren manchmal Linke und Rechte Seite an Seite. Das erinnert an die Weimarer Republik und nennt sich Querfront.  Sicher trägt ein einzelner Philosoph nicht die Verantwortung dafür, aber seine apokalyptischen Analysen sind nicht nur common-sense-fern, wie Georg Kohler bemerkt hat, sie sind schlicht unzutreffend. Selbst im Lockdown sind wir nicht auf unser nacktes Leben reduziert, wir bleiben Bürgerinnen und Bürger, wenn auch unsere Grundrechte eingeschränkt sind.

Es stimmt, dass unsere Freiheit bedroht ist, weil Demokratien nicht so gesichert sind, wie wir geglaubt haben. Aber das sollte uns allen ein Ansporn sein, uns für den liberalen Rechtsstaat einzusetzen, nicht diesen zu denunzieren.

Die Toten und das Schweigen der Kirche

Agamben kombiniert in seinem Denken Foucault, Heidegger und Carl Schmitt, ist aber auch ein katholischer Denker  – auf seine besondere Weise.

In seinem NZZ-Artikel vom 15.4.2020 greift er die katholische Kirche an: „Die Kirche unter einem Papst, der sich Franziskus nennt, hat vergessen, dass Franziskus die Leprakranken umarmte. Sie hat vergessen, dass eines der Werke der Barmherzigkeit darin besteht, die Kranken zu besuchen. Sie hat vergessen, dass die Martyrien die Bereitschaft lehren, eher das Leben als den Glauben zu opfern, und dass auf den Nächsten zu verzichten bedeutet, auf den Glauben zu verzichten.“

Starke Worte. Vielleicht könnten die Kirchen mehr tun, um den Kranken und Sterbenden beizustehen. Tatsache ist jedoch, dass während der ersten Welle in Norditalien viele Priester zu den Kranken und Sterbenden gegangen sind. Viele von ihnen sind in der Folge selbst gestorben. Sie haben es still getan, und die Gesellschaft hat nur während eines Augenblicks davon Notiz genommen. Aber die Kirche, das sind nicht nur die Amtsträger. Tun wir Christinnen und Christen genug für unsere Mitmenschen? Oder lassen wir uns von unserem Eigeninteresse bestimmen? Diese Frage müssen wir uns von Giorgio Agamben gefallen lassen.

Artikel, die Agamben für die NZZ und andere Tageszeitungen geschrieben hat, sind jetzt versammelt in: Giorgio Agamben, An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik. Turia + Kant 2021 S. 153