Kugelförmige Hühner und der Sinn von Grundlagenforschung

Ein Bauer stellt fest, dass seine Hühner kaum mehr Eier legen, und fragt einen Physiker um Rat. Dieser analysiert die Situation, stellt umfangreiche Berechnungen an und antwortet dem Bauern schliesslich: „Ich habe eine Lösung für Ihr Problem, aber sie funktioniert leider nur für kugelförmige Hühner im Vakuum.“

Dieser Witz illustriert ein zentrales Problem naturwissenschaftlicher Forschung: Um ihre (oft beeindruckend erfolgreichen) Methoden anwenden zu können, muss sie ihren Gegenstand durch Idealisierung so weit vereinfachen, bis er mit der komplexen Realität unseres Alltags kaum mehr etwas zu tun hat. Nun könnte man einwenden, dass zumindest die Grundlagenwissenschaften ja gar nicht die Aufgabe haben, diese Komplexität zu erfassen; der Physiker soll das Legeverhalten von Nutzgeflügel ruhig dem Tierarzt überlassen und sich selber um grundlegendere Dinge wie etwa den Aufbau der Materie kümmern. Allerdings stellt sich dort das Problem des Realitätsbezugs genauso, denn die Theorien der fundamentalen Physik sind dermassen abstrakt, dass die kugelförmigen Hühner im Vergleich dazu plötzlich wie ein ziemlich realistisches Modell aussehen.


Die Grundlagenforschung reagiert auf dieses Problem, indem sie – etwas überspitzt ausgedrückt – die Realität der Theorie anpasst. Wissenschaftliches Experimentieren besteht darin, einen Teil der Welt so gut als möglich von der Komplexität des Alltags zu isolieren und somit eine Realität zu präparieren, auf die sich die Theorie anwenden lässt. Um im Bild des Hühnerstalls zu bleiben: Wenn sich die Theorie nur an kugelförmigen Hühnern im Vakuum testen lässt, dann bauen wir uns eben kugelförmige Hühner im Vakuum. Und unter solch idealen Bedingungen lassen sich dann theoretische Vorhersagen mit bisweilen phantastischer Genauigkeit bestätigen.

Die Frage, was uns die Theorie über die rohe (d. h. nicht im Rahmen eines Experiments präparierte) Realität aussagt, ist damit aber noch nicht beantwortet. Mit ihr konfrontiert, flüchten sich Physiker gerne in eine Haltung des Instrumentalismus, wonach es gar nicht Aufgabe einer Theorie sei, die „Realität“ in diesem Sinn zu beschreiben. Vielmehr sei die Theorie lediglich ein Werkzeug zur Herleitung experimentell überprüfbarer Vorhersagen. Um jegliche über diesen eingeschränkten Kontext hinausgehende Realität mögen sich dann die Philosophen kümmern. Die Grenzen einer solchen Haltung zeigen sich allerdings spätestens dann, wenn begründet werden soll, warum die Gesellschaft Milliarden von Steuergeldern in Experimente investieren soll, die solche Vorhersagen überprüfen. Da werden dann die Physiker selbst zu Philosophen (oder gar zu Theologen, vgl. die Rede vom „Gott-Teilchen“). So begrüsst etwa das CERN die Besucher seiner
Webseite mit den Fragen: „Woraus besteht das Universum? Wie begann es?“ Solange die Wissenschaft den Anspruch erhebt, solche Fragen zu beantworten, kann sie sich nicht mit einem instrumentalistischen Verständnis ihrer Theorien zufriedengeben. Andernfalls läge der Verdacht nahe, dass ihre Antworten mit dem wirklichen Universum ähnlich wenig zu tun hätten wie die eingangs zitierte Antwort des Physikers mit wirklichen Hühnern.