Das Gehirn denkt, entscheidet, sieht, vermutet. Zumindest tragen Studierende in meinem Seminar zur Philosophie der künstlichen Intelligenz solche Thesen jeweils sehr selbstbewusst vor. Dabei gibt es jeweils kaum direkte Anschlusspunkte im Lektüreplan des Seminars für Diskussionen über derlei bemerkenswerte Fähigkeiten des Gehirns. Eigentlich geht es schwerpunktmässig um die kognitiven Fähigkeiten, die wir künstlichen neuronalen Netzwerken zuschreiben können.
Neuronen als Bewusstseins-Produzenten
Doch die, nach Ansicht des Autors hauptsächlich aus Marketing-Gesichtspunkten gerechtfertigte Bezeichnung der Software-Architekturen als neuronale Netzwerke führt jeweils dazu, dass sich die Diskussion immer wieder auf die Fähigkeiten der (natürlichen) neuronalen Netzwerke des Gehirns verlagert.
Rasch kommt dann auch die Vermutung auf, dass viele Fragen bezüglich der kognitiven Fähigkeiten künstlicher neuronaler Netzwerke erst geklärt werden können, wenn klar ist, wie unsere natürlichen neuronalen Netzwerke diese Fähigkeiten gewissermassen erzeugen. Wenn wir also verstanden haben, wie das Gehirn Bewusstsein produziert, dann werden wir auch in der Lage sein, künstliche neuronale Netzwerke zu bauen, die ebenfalls Bewusstsein produzieren.
Den Studierenden ist in keiner Weise ein Vorwurf zu machen – äussern sich ja auch eminente Exponentinnen und Exponenten der kognitiven Neurowissenschaften ganz ähnlich. (vgl. dazu die Verweise in Bennett/Dennett/Hacker/Robinson/Searle: «Neuroscience & Philosophy», Columbia University Press 2007, pp. 155)
Was kann bei Bewusstsein sein?
Allerdings halte ich diese Redeweise für unsinnig. Beim Beispiel des Bewusstseins kommen gleich zwei Probleme zusammen. Einerseits ist da die Verdinglichung von Bewusstsein. Man spricht wohl davon, dass jemand das Bewusstsein verloren habe – es ist aber kompetenten Sprecherinnen und Sprechern klar, dass man dieses Bewusstsein nicht so verliert, wie man eine Brieftasche verliert. Vielmehr meint man mit der Rede vom Verlust des Bewusstseins, dass sich jemand in einem bestimmten Zustand befindet: «bewusstlos» ist ein Gemütszustand ähnlich wie «müde»: Personen sind manchmal müde, manchmal topfit, manchmal bei Bewusstsein, manchmal schlafen sie.
Das Gehirn ist für beides eine notwendige Bedingung: Kein Bewusstsein ohne Gehirn, keine Geistesgegenwart ohne. Aber es ist weder Subjekt noch Produzent: Das Gehirn produziert kein Bewusstsein, und es ist nicht bewusst. Es ist jedoch die Person, die bei Bewusstsein ist. Wir sagen: «Petra hat das Bewusstsein wiedererlangt.» Wir sagen nicht: «Petras Gehirn (oder: Das Gehirn namens Petra?) hat sein Bewusstsein wiedererlangt.». Aber vielleicht sagen wir das ja einfach nicht richtig? Vielleicht haben die Neurowissenschaften ja herausgefunden, dass es eben doch das Gehirn ist, das Bewusstsein produziert, und wir müssen eben unseren Sprachgebrauch anpassen?
Ohne Sinn weder Wahrheit noch Falschheit
Es ist hier ausgesprochen wichtig, präzise zu sein. Denn empirische Erkenntnisse können tatsächlich Änderungen im Sprachgebrauch nahelegen, wobei sie das kaum je tatsächlich hinkriegen: Wir sagen immer noch, die Sonne gehe auf, wir nennen Teilchenverbände Atome (also: «Unteilbare»), die wir regelmässig spalten, und so weiter.
Wenn aber empirische Befunde zeigen sollen, dass es das Gehirn ist, das bei Bewusstsein ist und nicht die Person, so liegt eine sprachliche Verwirrung vor: Die empirischen Befunde, die auf derart verwirrliche Weise begrifflich ausgedrückt werden, können sehr wohl bahnbrechend, interessant, ein Segen für die Menschheit etc. sein; die kognitive Neurowissenschaft ist keine Pseudowissenschaft. Doch die Befunde können nicht zeigen, dass Bewusstsein tatsächlich vom Gehirn produziert wird – genauso wenig, wie sie belegen können, dass Väter in Wahrheit gar keine Kinder haben.
Die Sprache spannt einen Rahmen der Sinnhaftigkeit aus, hinter den die empirische Wissenschaft nur in absoluten Ausnahmefällen (in wissenschaftlichen Revolutionen in Kuhns Sinn beispielsweise) zurückgehen kann. Sonst darf sie das nicht, weil die Verletzung dieses Rahmens in sinnlose Aussagen mündet. Sinnlose Aussagen aber können weder empirisch verifiziert noch empirisch falsifiziert werden. Es ist unklar, was es bedeuten würde, dass Väter eigentlich gar keine Kinder haben und deshalb unmöglich, diese Aussage empirisch zu verifizieren oder zu falsifizieren.
Tatsächlich ist der Fall des bewussten Gehirns ähnlich klar wie der des kinderlosen Vaters: Beides unterläuft den genannten Rahmen der Sinnhaftigkeit und führt deshalb zu sinnlosen Aussagen, die nicht zu verifizieren oder falsifizieren sind. Beispiel: Wir wissen sehr wohl, wie sich herausfinden lässt, ob eine Person bei Bewusstsein sei – indem man sie anspricht, vielleicht leicht antippt, etc. Wie würde das bei einem Gehirn funktionieren?