Regisseur Lukas Dhont, Belgien 2022

Close ist ein berührender Film über ein Freundespaar an der Schwelle zur Pubertät.  Leo und Rémy sind enge Freunde – so enge, dass sie in der Schule gefragt werden, ob sie ein Paar seien.  „Wir sind wie Brüder“, antwortet Leo auf diese Frage. Angesiedelt ist die Geschichte im ländlichen Belgien: es ist ein Aufwachen in einer Naturidylle im Rhythmus der Jahreszeiten. Sie raufen sich, schlafen oft im gleichen Zimmer, was für die Eltern gar kein Problem darstellt.

Ein Dritter kommt ins Spiel

Die Geschichte kommt an einem Wendepunkt, als ein Junge Leo einlädt, an einem Eishockeytraining teilzunehmen. Leo beginnt sich von Rémy ab- und sich diesem Jungen zuzuwenden, was Rémy  zu heftigen, verzweifelten Reaktionen veranlasst.  Es sei ein Film um Rollenerwartungen, behauptete das Schweizer Radio in ihrer Kritik. Rollenerwartungen spielen tatsächlich eine Rolle, aber keine zentrale. Vielmehr  zerbricht eine Freundschaft zwischen zwei Jugendlichen, weil ein Dritter ins Spiel kommt.

Rémy verkraftet den Verlust seines Busenfreundes nicht und bringt sich um. Ab diesem Moment dreht sich der Film um die Sprachlosigkeit, mit der die Erwachsenen auf ein solches, erschütternderes Ereignis reagieren. Wir sehen Leos Familie am Küchentisch, Alltagsdialoge schützen Normalität vor. Aber Leo ist jetzt von einem einzigen Thema beherrscht, von der Frage nach seiner Schuld. In einer Szene, die unter die Haut geht, schafft er es, Rémys Mutter diese Schuld einzugestehen.

Die Kritikerin des Schweizer Radios kommentiert, dass der Film im zweiten Teil „an Fahrt verliert“. Das Gegenteil ist der Fall: was als homoerotische Jugendromanze begann, endet in einer Tragödie, und nicht wegen der gesellschaftlichen Rollenerwartungen  sondern wegen des Auftauchens einer dritten Person, die die Zweierbeziehung in die Krise stürzen lässt. Eine klassische Konstellation.

Mit Banalität verdeckte Sprachlosigkeit

Schuld ist ein universales Thema. Es ist ja kein Zufall, dass im Vater Unser unmittelbar nach der Bitte um das täglich Brot die Bitte um Vergebung der Schuld folgt.  Die säkulare Gesellschaft hat die Sprache dafür aber verloren. Schuld wird auf Schuldgefühle reduziert. Nun quälen Leo tatsächlich Schuldgefühle, weil sein Verhalten – unabsichtlich – zum Selbstmord seines Freundes geführt hat. Dass er die Stärke gefunden hat, Rémys Mutter seine Verantwortung einzugestehen, weist auf das Leben mit dieser Last voraus. Leo wird es schaffen, seine neue Beziehung hilft ihm dabei. Aber Rémy wird nicht wieder lebendig werden.

Die Beklemmung nach Rémys Tod, die mit alltäglicher Banalität notdürftig verdeckte Sprachlosigkeit, schliesslich die Kraft Leos, sich seiner eigenen Verantwortung zu stellen – dies alles wird gekonnt und schnörkellos ins Bild gesetzt.  Es geht um das  Menschheitsthema Schuldigwerden ohne Absicht,  nicht um konventionelle Rollenerwartungen, zumal  in der Welt der Erwachsenen niemand an der grossen Nähe der beiden Protagonisten Anstoss zu nehmen scheint.  Das macht diesen Film so bedeutend. Die SRF-Redakteurin kann dies selbst auf der Metaebene der Filmkritik nicht artikulieren, was nicht nur ihr persönliches Defizit darstellt, sondern vielmehr ein Defizit unserer Kultur ist, die bei den urmenschlichen Themen Schuld und Tod passen muss.