Am 29.06.2023 gab der Schriftsteller Robert Menasse ein Interview der Neuen Zürcher Zeitung, darin sprach er den Satz: „Nationalismus führt zu Auschwitz“. Stimmt das? Meiner Ansicht nach nicht, ja es handelt sich nicht nur um eine falsche Aussage, es instrumentalisiert den Holocaust für politische Zwecke.
Faschismus ist etwas Neues
Aber der Reihe nach. Gemäss einem verbreiteten Urteil war der Nationalsozialismus eine übersteigerte, extreme Ausprägung des Nationalismus. Dies ist einseitig und verkennt die Neuheit in den faschistischen Systemen des 20. Jahrhunderts. Noch eher trifft die Ansicht auf den italienischen Faschismus zu, aber auch hier werden mit dieser Perspektive die Elemente der Neuheit verdeckt: Führerprinzip, das Konzept des „totalen Staates“, der vorbehaltlose Einsatz von Gewalt im Inneren wie auch in den Aussenbeziehungen. Im faschistischen Italien konnte die Idee des totalen Staates nicht voll umgesetzt werden, da mit Monarchie und katholischer Kirche Institutionen existierten, die der Faschismus nicht einfach eliminieren konnte. In Deutschland nach 1933 fand hingegen die Gleichschaltung aller Lebensbereiche statt. Manches im Faschismus bzw. Nationalsozialismus kann aus dem Nationalismus abgeleitet werden, z.B. die Vorstellung eines homogenen Volkes oder auch die gesellschaftliche Mobilisierung, die schon im 19. Jahrhundert stattfand.
Kampf der Rassen, nicht der Nationen
Nation stellt jedoch eine kulturelle Grösse dar, wenn auch schon im 19. Jahrhundert über den Begriff Volk eine Biologisierung des politischen Denkens begann. Nation ist jedoch für den Nationalsozialismus, entgegen seiner eigenen Namensgebung, keine zentrale Kategorie – die zentrale Kategorie ist die der Rasse. Rassen stehen gemäss dem Nazi-Weltbild in einem gnadenlosen Kampf um die Vorherrschaft. Wer diesen Kampf gewinnt, dominiert. Deswegen konnte Hitler in seinem politischen Testament ungerührt feststellen, dass er sich geirrt hatte: die Slawen, nicht die Arier hätten sich durchgesetzt, sie würden folglich herrschen. Die Juden sind für die Nazis keine Rasse im eigentlichen Sinn, sie sind diejenigen, welche die pervertierte, pseudobiologische Idee einer «natürlichen Ordnung“ stören. Deswegen müssen sie in ihrer Gesamtheit vernichtet werden. Antisemitismus gab es zugegebenermassen schon früher, aber der „eliminative Antisemitismus“ (Daniel Goldhagen), der nicht Phantasie sondern politisches Programm ist, ist eine Ausgeburt des 20. Jahrhunderts.
Menasses Aussage ist historisch unhaltbar
Robert Menasses Antipathie gegen den Nationalismus lässt ihn zu Schlüssen kommen, welche historisch unhaltbar sind. Vielmehr ist seine Aussage Teil einer politischen Rhetorik, mit der er zeitgenössische Gegner treffen will. Die Gleichung Nationalismus gleich Völkermord resultiert überdies aus einer deutschen Innensicht. Beispielsweise der polnische Nationalismus war immer auch defensiv gegen die übermächtigen Nachbarn Preussen, Schweden, Österreich und Russland gerichtet. Die Polen haben ihre Souveränität erst am Ausgang des I. Weltkrieges wiedergewonnen. Der antisemitisch gefärbte polnische Nationalismus kam gegenüber den Juden zu ganz anderen Schlüssen: zwar sollte der jüdische Bevölkerungsanteil verringert werden, aber durch Auswanderung. Der polnische Staat ging so weit, zionistische Gruppen an der Waffe auszubilden, damit sie sich in Palästina durchsetzen konnten. Die ganze Geschichte findet sich in Timothy Snyders Buch „Black Earth“. Tatsächlich war der Kern der bewaffneten jüdischen Untergrundbewegung in Palästina in Polen ausgebildet worden. Dass der polnische Antisemitismus so verwerflich wie jeder andere ist, bleibt unbenommen. Aber wenn wir von Nationalismus sprechen, müssen wir differenzieren.