Der italienische Sozialkatholizismus, Teil II: Die Kultur

Der italienische Sozialkatholizismus war und ist kulturell äusserst fruchtbar und hat Gedichte, Romane, Essays und auch Spielfilme hervorgebracht. Beispielhaft sollen hier Pier Paolo Pasolinis «Il vangelo secondo Matteo» und Ermanno Olmis «L’albero degli zoccoli» vorgestellt werden.

 

Il vangelo secondo Matteo

Pasolini kann man nicht umstandlos unter dem Titel «Sozialkatholizismus» subsumieren, denn er stand der katholischen Kirche ablehnend gegenüber, andererseits war ihm bewusst, dass «zweitausend Jahre Christentum»(O-Ton Pasolini) in ihm wirken. Seine Verfilmung des Matthäusevangeliums ist unübertroffen und vielleicht unübertrefflich. Pasolini operiert mit einer Reduktion der Requisiten, gleichsam mit minimalem materiellem Aufwand. Der konsequente Einsatz von Laiendarstellern verleihen dem in schwarzweiss gedreten Werk eine Authentizität, die eine enorme Wirkung entfaltet. Die Dialoge halten sich peinlich genau an den Evangeliumstext. Der Regisseur scheut sich nicht, die Reden des matthäischen Jesus in voller Länge ohne Rücksicht auf die filmische Dramaturgie aufzunehmen, was die Radikalität der jesuanischen Botschaft umso schonungsloser hervortreten lässt. «Il vangelo secondo Matteo» ist nicht der einzige christlich inspirierte Film dieses künstlerischen Genies: Mit «Teorema» hat er ein weiteres Meisterwerk geschaffen, während er mit «La ricotta» einen Kurzfilm dreht, der auf zwei Ebenen funktioniert: Einerseits handelt der Film von einem armen Teufel, der während der Aufnahmen für einen Jesusfilm herumgehetzt wird, andererseits karikiert Pasolini den Jesusmonumentalfilm hollywood’scher Machart – der amerikanische Regisseur in «La ricotta»  wird übrigens von keinem Geringeren als von Orson Wells gespielt.
 

L› albero degli zoccoli

Mit Pasolini teilt der bei uns weniger bekannte Olmi die Ästhetik des Nicht-Perfekten. Auch er setzt in seinem Meisterwerk «L’albero degli zoccoli» (der Zoccolibaum) auf Laienschauspieler. Der Film entführt uns in eine ländliche norditalienische Welt, die geprägt ist von Arbeit und Gebet, vom Wechsel der Jahreszeiten und von den Festen des Kirchenkalenders. Die Menschen sind arm, die Mittelschicht peripher. Reich ist nur der Grundbesitzer mit seiner Familie. Man hilft sich gegenseitig so gut man kann. Der Grossvater erzählt den Enkeln abends Geschichten am Kamin. Ermanno Olmi verklärt diese Welt aber nicht, denn er zeigt die Kinder bei der Arbeit, die materielle Not, die entsteht, wenn ein Vater oder eine Mutter sterben und vor allem das Ausgeliefertsein der Bauernfamilien der Macht des Grundbesitzers. «L’albero degli zoccoli» ist mehr als ein 1978 in Cannes preisgekrönter Spielfilm, er ist ein Manifest des Sozialkatholizismus. Die Armen sind Gott besonders nahe – dieser Satz, ausgesprochen von einer Bäuerin, die die Kinder tadelt, weil sie einen geistig Behinderten auslachen, ist das Credo Olmis wie das der gesamten Bewegung. Den Film durchzieht leitmotivisch der berühmte Schlusssatz von Georges Bernanos› «Journal d’un curé de campagne»: Tout est grâce.
 

Gegen die Verheissungen des Fortschritts

Pasolini wie Olmi ist vorgeworfen worden, mit ihrer Klage über die Verheerungen und Verluste der Modernisierung Nostalgiker zu sein. Beide unterbreiten den Parteigängern des Fortschritts tatsächlich eine Gegenrechnung: der Verlust des familiären Zusammenhalts, der religiösen Kultur, der intakten Natur. Bürgerlicher Individualismus, Konsumismus und die Tendenz vieler Italiener, auf den Karren der Sieger aufzuspringen, sind ihnen ein Gräuel. Dazu muss man wissen, dass Italien in lediglich dreissig Jahren  von einem Agrarland zu einer Industriegesellschaft mutiert ist; der damit verbundene  kulturelle Bruch ist für viele traumatisch gewesen. Bewusst rücken Pasolini und Olmi marginale Menschen ins Zentrum, wobei der Gebrauch des Dialekts – in Italien lange als Zeichen von Rückständigkeit und Unbildung verpönt – das Seine zur Erschaffung einer Gegenwelt beitragt. Allerdings ist auch klar, dass das Milieu, in der «L’albero degli zoccoli» spielt, unwiederbringlich verloren ist. Bei Lichte betrachtet kann auch niemand dorthin zurück wollen. Es muss vielmehr darum gehen, die moralischen, religiösen und kulturellen Werte ins Heute zu übersetzen.