Wer diesen Text bis hierher gelesen hat, kann der Auffassung sein, beim italienischen Sozialkatholizismus handle es sich um eine religiös-kulturelle Bewegung. Tatsächlich ist dieser ebensosehr eine politische, auch eine parteipolitische. Bis zum Ende der Ersten Republik, bis in die neunziger Jahre also, war „cattolicesimo sociale“ Synonym für den linken Flügel der Democrazia Cristiana. Die bedeutsamsten Figuren der Gründergeneration waren Giuseppe Dossetti und Giorgio La Pira.
Giuseppe Dossetti, der Intellektuelle Kopf
Dossetti durchlief das Jurastudium mit Bravour und wurde sehr jung Professor für Kirchenrecht an der Universität Modena. Während des Krieges schloss er sich der Resistenza an und wurde Partisanenkommandant. Nach der Befreiung Italiens trat er der neugegründeten Democrazia Cristiana bei und wurde sogleich eine der führenden Persönlichkeiten. Bei der wichtigsten aussenpolitischen Frage jener Jahre, dem Beitritt zur NATO, verhielt er sich wie viele aus dem Linkskatholizismus ablehnend, liess sich aber kurz vor der entscheidenden Parlamentsabstimmung überzeugen, mit ja zu stimmen.
Die Gründung des Bologneser Instituts
Den Machtkampf mit dem Vorsitzenden der DC, Alcide De Gasperi, verlor er und schied 1951 aus der Parteipolitik aus. Bald darauf gründete er in Bologna das „Istituto per le scienze religiose“, das mit der hiesigen Religionswissenschaft wenig zu tun hat. Vielmehr war es sein Anliegen, die Beschäftigung mit dem Christentum aus dem engen, von der Amtskirche bestimmten Raum der Theologischen Fakultäten, die in Italien allesamt kirchliche Institutionen waren und es bis heute sind, herauszuführen. Damit hat Dossetti ein intellektuelles Zentrum par exellence geschaffen, das sich bis heute um die Erforschung des II. Vatikanums verdient macht und seine Aufmerksamkeit auch auf andere Konfessionen bzw. Religionen richtet.
Giuseppe Alberigo hat dort gewirkt und seine monumentale Konzilsgeschichte geschrieben. Der jetzige Leiter Alberto Melloni, ist einer der bedeutendsten katholischen Intellektuellen des Landes und Autor vieler Bücher. Als Kenner der Kirche und der Kurie ist er auch schon von der NZZ zitiert worden.
Giorgio La Pira, der Bürgermeister
Nach der Befreiung Italiens wird La Pira, der Professor für Römisches Recht ist, zusammen mit Dossetti in die verfassungsgebende Versammlung gewählt, wo er von allen Seiten Respekt und Anerkennung erntet, weil er auf die andere Seite zugehen kann und nicht stur auf seinen Positionen beharrt. Bald schlägt seine Stunde, er wird zum Bürgermeister des „roten“ Florenz gewählt. Sein ausserordentliches Engagement für die Armen war schon weitherum bekannt. Die Arnostadt war durch den Krieg stark getroffen: Alle Brücken ausser dem Ponte Vecchio waren gesprengt, viele Häuser hatten Schäden erlitten. Der neugewählte Bürgermeister tut sein Bestes, um die grosse Not zu lindern. Unter seiner Präsidentschaft werden ganze Quartiere gebaut.
Politik und Prophetie
Neben diesem sozialen Einsatz setzte sich der heilige Bürgermeister, wie er nun genannt wurde, für Frieden und Dialog ein. Sein 1955 einberufener Kongress der Metropolen wurde – im Kalten Krieg bemerkenswert – auch von Delegationen aus dem Ostblock besucht. In diesem Ereignis lässt sich ein hervorstechender Charakterzug dieses Christdemokraten erkennen, seine prophetische Kraft. Es ist diese Energie, der ihn zu einer weiteren Initiative drängt, den Mittelmeer-Dialogen. Am Mittelmeer, so seine Überlegung, leben seit je Juden, Christen und Muslime. Florenz zu einem Ort eines grenzüberschreitenden Dialogs machen, das war La Piras Vision. Giorgio La Pira war ein Brückenbauer und ein Katholik, der die Sendung der Laien ernst nahm.