Italienischer Sozialkatholizismus, Teil IV: Bilanz

Die Bilanz einer so heterogenen und darüber hinaus nicht zum Ende gekommenen Bewegung ziehen zu wollen, ist verwegen, vor allem in einem kurzen Text. Anstelle einer wirklichen Bilanz will ich es bei ein paar Bemerkungen bewenden lassen. Zunächst möchte ich nochmals in Erinnerung rufen, dass sich der kulturelle und der politische Sozialkatholizismus überhaupt nicht decken: Lassen wir mal Pasolini beiseite, der ein Fall für sich ist und eine eigene Beschäftigung erfordern würde, so steht der herausragende Lyriker Giovanni Giudici beispielhaft für einen Künstler, des sich offensichtlich am Christentum inspiriert, der jedoch zeit seines Erwachsenenlebens PCI-Mitglied war und es bis zur Auflösung der kommunistischen Partei in den 90er Jahren geblieben ist. Die Konservativen bezeichneten Leute wie Giudici mit einem hässlichen Begriff: cattocomunisti.

Trotz dieser Disparitäten bin ich der Meinung, dass es Gemeinsamkeiten zwischen den Vertretern des italienischen Sozialkatholizismus gibt.

Antifaschismus

Alle Sozialkatholiken haben den Faschismus abgelehnt, nicht wenige haben in schreibend oder auch mit Waffen bekämpft. Giovanni Dossetti, der Partisan war, ist schon erwähnt worden. Der Ordenspriester und Dichter David Maria Turoldo gab in Mailand die antifaschistische Zeitschrift “L’Uomo” heraus. Neben der politischen Ablehnung trat die ästhetische: Während der Faschismus das – vermeintlich – Grosse, Glänzende, Erhabene feierte, hoben jene Personen das Kleine, Unscheinbare, Randständige hervor. Pasolini siedelte seine Geschichten in der Peripherie Roms, nicht im Zentrum an. Die faschistische Rhetorik wurde als hohl erkannt, deswegen war es doppelt wichtig, ein authentisches Fundament zu finden.

Option für die Armen

Was die Option für die Armen ästhetisch bedeutete, wird  in den Filmen Pasolinis und Olmis wie auch in den Gedichten Giudicis sinnenfällig. Aber was bedeutete sie politisch? Als der Sozialkatholizismus innerhalb der Democrazia Cristiana in der unmittelbaren Nachkriegszeit an Einfluss gewann, lancierte er ein grosses keynesianisches Programm, der als “piano Fanfani” in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Sein Namensgeber Amintore Fanfani war ein genialer Wirtschaftsprofessor – übrigens ein ehemaliger Faschist, der als Ausnahme die Regel bestätigt – , welcher ein gross angelegtes Wohnbauprogramm lancierte.

Dieses Programm linderte nicht nur die Wohnungsnot sondern schob die gesamte Wirtschaft an. Wie immer bei solchen staatlichen Initiativen, war der sozialpsychologische Effekt genauso wichtig: Die desorientierten, frustrierten Menschen gewannen Zuversicht. Was die DC-Linke betrieb, war eigentlich klassische sozialdemokratische Politik, die selbstredend nicht mit gesellschaftlicher Liberalität einher ging, was sie damals auch bei Sozialdemokraten nicht tat. Es war wesentlich diesen Leuten zu verdanken, wenn sich die DC für eine Koalition mit den Sozialisten öffnete – eine Koalition, die das Belpaese bis in die frühen 90er Jahre regiert hat.

Kulturkritik

Zwischen der Kulturkritik der Intellektuellen und dem Handeln der Politiker gab es Widersprüche: Während die Intellektuellen die Naturzerstörung und den Verlust ürsprünglicher Lebenswelten durch die beginnende Wohlstandsgesellschaft anprangerten, betrieben Christdemokraten wie Fanfani eine Wirtschaftspolitik, die eben jene Phänomene als “Kollateralschaden” in Kauf nahm. Wir dürfen aber nicht vergessen, was Wohlstand in jenen Jahren hieß; es hieß zuerst einmal ein Dach über dem Kopf haben, genug zu essen, Strom und fliessendes Wasser, eine feste Arbeit. Später kam der Kühlschrank, der Fernseher, der Fiat Cinquecento. Mit der Zeit transformierte das verstetigte Wirtschaftswachstum zusammen mit gegenkulturellen Phänomenen wie die 68er Bewegung die italienische Gesellschaft radikal. 1950 ging es jedoch um die Befriedigung primärer Bedürfnisse.

Der italienische Sozialkatholizismus ist nicht zu Ende. Ich lade alle ein, auf YouTube die Rede des Erzbischofs und Metropoliten von Palermo Corrado Lorefice zu hören, die er am 15. Juli 2018, am Festtag der heiligen Rosalia, Stadtpatronin von Palermo, gehalten hat. Die kaum verhüllte Anklage gegen Salvinis Politik der geschlossenen Häfen verbindet sich mit der Kritik am europäischen Raubbau in Afrika – Sozialkatholizismus pur. Wie eine solche Kritik in funktionierende Politik umzuwandeln wäre, ist allerdings eine andere Frage.

Epilog

Saint-Bon Platz

Es versprüht Anstand der Gläubiger, er wütet

gegen den Zahlungsunfähigen, er droht ihm mit Gefängnis,

er lässt die Leute des Abendspaziergangs zusammenkommen:

Der Gerechte verlangt Gerechtigkeit vom Beamten des Königs.

Gegen ihn ist nur das Kind, das zittert

vor Angst und Scham, das jedoch so tut

als ob es zu anderen gehören würde – es klammert sich nicht

an den misshandelten Elternteil.

Das Kind des Schuldners – ich

bin es gewesen.

Für meinen Vater betete ich zu meinem Gott

ein Gebet von seltsamer Art:

Vergib uns unsere Schuld

wie wir sie vergeben.

(Giovanni Giudici, aus: La vita in versi, 1965, Mondadori.

Übersetzung Francesco Papagni)

Piazza Saint-Bon

Sbraita decoro il creditore, infierisce

sull’ insolvente, gli minaccia galera,

fa adunare la gente del passeggio serale:

Il giusto chiede giustizia al procuratore del re.

gli è contro solo il bambino che trema

di paura e vergogna, ma che finge

di appartenere ad altri – non si stringe

al genitore maltrattato.

Il figlio del creditore – io

sono statt.

Per il mio paare pregavo al mio Dio

Una preghiera dal senso strano:

Rimetti a neu i nostri debiti

Come neu li rimettiamo.