Wie über den Tod gesprochen und nicht gesprochen wird. Eine Antwort auf Barbara Bleisch. Teil I

In einer Kolumne mit dem Titel „Den Tod verantworten“ (Tages-Anzeiger vom 19. Januar 2021) wendet sich die bekannte Philosophin Barbara Bleisch gegen die These, unsere Gesellschaft würde den Tod verdrängen. Das Gegenteil sei der Fall: Jahr für Jahr erscheine eine Flut von Büchern mit Titeln wie „Sterben lernen“ oder „Über selbstbestimmtes Sterben“.  Und über die Frage, wie wir sterben wollen, machen wir uns heute Gedanken. Viele halten ihren Willen in einer Patientenverfügung fest.  

Über den Tod verfügen

Ihr Fazit: „Dass der Tod in unserer Gesellschaft verdrängt wird, ist also ein Mythos. Gewandelt hat sich indes unser Verhältnis zur Religion. Deshalb läutet das Totenglöckchen nicht mehr, und das Seelenfensterchen fehlt im Neubau. Wo kein Glaube an eine Seele ist, braucht es für sie auch keinen Ausgang vom Diesseits ins Jenseits.“ Der Gedankengang gipfelt im Satz: „Entscheidend ist nicht mehr allein das Schicksal, das nach dem Leben greift, sondern immer öfter sind wir es, die über Leben und Tod verfügen.“ Der Begriff, der hinter dieser Argumentation steht, ist Selbstbestimmung. Der Raum der Selbstbestimmung ist in der Spätmoderne immer weiter geworden, sodass er jetzt sogar den Tod erfasst. Wir sind es, die über Leben und Tod verfügen.
Aber was würde es bedeuten, wenn wir tatsächlich über den Tod verfügen würden? Wenn wir wirklich entscheiden könnten, ob wir Leben oder Sterben wollen? Die Menschen haben seit jeher die Möglichkeit zum Suizid gehabt – so gesehen haben sie nicht erst seit heute über den Tod verfügt. Wir aber – das scheint Bleischs Argument – können entscheiden, wie und sogar wann wir sterben wollen. Wir haben Macht über den Tod.

Die Grenze der Selbstbestimmung

Barbara Bleischs Aussage ist vermessen. Wir verfügen nicht über den Tod. Wir können uns auf ihn vorbereiten, mit Gesprächen , mit Patientenverfügungen, mit einem Testament. Wir können zumindest in der Schweiz einer Sterbehilfeorganisation beitreten, die uns ein tödliches Mittel besorgt, wenn wir es nicht mehr aushalten. Aber eines können wir nicht, das wir können müssten, wenn wir wirklich über den Tod verfügen würden: wir können dann, wenn der Tod kommt, nicht sagen, heute nicht, ich mag noch nicht. Komm in einem Jahr wieder.

Wir können unser Leben abbrechen, es aber nicht verlängern. Freilich hat die moderne Medizin die Lebensspanne massiv erweitert. Neunzigjährige sind keine Seltenheit mehr. Das Leben bleibt jedoch endlich, und wir wissen auch nicht, wann wir sterben. Wir können uns darauf vorbereiten, aber ob unsere Vorkehrungen etwas nützen, wissen wir nicht. Schliesslich sterben kerngesunde Menschen in ihren besten Lebensjahren, weil ihre Aorta reisst oder ihr Herz im Schlaf zu schlagen aufhört. Oder sie stürzen bei einer banalen Bergwanderung ab. Dass die meisten nicht an einem Aortariss sterben, ist geschenkt. Aber wir müssen jederzeit damit rechnen, das macht unsere conditio humana aus.