Glauben und Wissen, Teil 1

Die von foχs organisierte Tagung (31. 10. 2020) zu Glauben und Wissen – Grundlage war das neueste Werk von Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie – brachte viel Kritik für die habermasianische Rekonstruktion der «Entkoppelung von Glauben und Wissen», die der Frankfurter Philosoph an der Figur Martin Luther festmacht. Der Luther-Kenner Ingolf Dalferth diagnostiziert bei Habermas eine falsche Luther-Interpretation. Nun hat die Diagnose der Entkoppelung von Glauben und Wissen in der Neuzeit eine hohe Plausibilität, Johannes Corrodi hat dies während der Diskussion zu Bedenken gegeben. Die Frage lautet also: wenn sich dieser Schritt nicht oder nicht hauptsächlich mit Luther vollzogen hat, wie sind die Dinge dann gelaufen?

Tatsächlich war die Wirkung des lutherischen Denkens nur schon geographisch beschränkt. In Frankreich, den Niederlanden und Schottland – alles Länder, die für die neuzeitliche Philosophie und Naturwissenschaft von zentraler Bedeutung sind – wirkte Calvin weit stärker. Die erste Frage lautet also, wie sich der Calvinismus zu diesem Problem verhält. Zum Zweiten bleibt die Naturwissenschaft und ihre Theoretiker im kolossalen, über 1700seitigen Werk von Habermas merkwürdig unterbelichtet. Das mag sicher damit zu tun haben, dass entgegen des Begriffs im Titel es sich nicht um eine Geschichte, sondern um eine Genealogie des Nachmetaphysischen Zeitalters handelt. Eine Genealogie verfolgt ausgehend von der Gegenwart einen bestimmten Strang in die Vergangenheit.

Trotzdem: haben Galileo Galilei, haben Francis Bacon, die nicht ausschliesslich Naturforscher sondern auch Theoretiker der Naturwissenschaft waren, zu dieser Entwicklung nichts beigetragen? Eine Rekonstruktion der Entkoppelung von Glauben und Wissen müsste bei der spätmittelalterlichen Infragestellung der grossen Synthese des Thomas von Aquin ansetzen und zeigen, von welchen philosophischen und theologischen Prämissen die beginnende Naturforschung der frühen Neuzeit ausgegangen ist. Ohne diese Prämissen ist die wissenschaftliche Revolution nicht zu verstehen, zumal viele Naturforscher auch Philosophen bzw. Theologen waren oder mit Kollegen aus diesen Disziplinen im engen Austausch standen. So wirkte etwa an der Universität Padua ein aristotelischer Philosoph namens Pomponazzi, der für Galilei wichtig wurde. Und Blaise Pascal war genialer Naturwissenschaftler und Theologe in Personalunion.

Das Forum Christliche Studien bemüht sich seit Jahren um Aufklärung dieser Zusammenhänge. Aber je weiter wir arbeiten je mehr wird uns bewusst, vieviel noch zu leisten wäre