Glauben und Wissen bzw. Glauben und Vernunft ist ein klassisches Thema der Theologie und auch der Religionsphilosophie. Heute heisst es eher Glauben gegen Wissen. Wann hat diese Frontstellung seinen Anfang gehabt? Tatsache ist, dass die grossen Kämpfe zwischen Theologie/Kirche einerseits und Naturwissenschaft als Vertreterin des neuzeitlichen Wissens ins 19. Jahrhundert zu datieren sind. Man denke an die leidenschaftlichen Diskussionen rund um Darwin. Ebenfalls ins vorletzte Jahrhundert ist das Bild des Galilei-Prozesses zu datieren, das zum emblematischen Ereignis in diesem Streit geworden ist. Im 18. Jahrhundert, demjenigen der Aufklärung, gibt es ein gesteigertes Interesse am Galilei-Prozess, das dann das ganze nächstfolgende Jahrhundert anhält und bis heute nicht abgerissen ist. Galilei wird zum Fackelträger der wissenschaftlichen Aufklärung gegen den Obskurantismus der katholischen Kirche. Hier steht Wissen gegen Glauben, Freiheit gegen Knechtschaft, das Individuum gegen die Institution.

Dass Galilei im Austausch mit einigen naturforschenden Jesuiten stand, passt nicht ins Bild und wird deswegen nicht erwähnt. Paul Feyerabend, der Querkopf der Wissenschaftstheorie, hat sich auf die Seite des Inquisitors Robert Kardinal Bellarmin geschlagen, mit folgendem Argument: im 16. Jahrhundert sei es ganz und gar unplausibel gewesen, eine Aussage zu verifizieren bzw. zu falsifizieren, indem man durch ein Fernrohr schaut. Was uns das Selbstverständlichste der Welt erscheint, nämlich eine wissenschaftliche Aussage durch ein Experiment oder in der Astronomie eben durch das Sammeln von Daten mittels eines Fernrohrs  zu erhärten, war in der Renaissance keineswegs üblich. Die experimentelle Methode war erst in ihren Anfängen. Erst mit der Physik Newtons wurde es übrigens möglich, die Thesen Galileis zu beweisen. Man muss Feyerabends Parteinahme nicht mitmachen, um zu erkennen, dass die historische Figur Galileo Galilei und das Bild, das spätere Jahrhunderte von im gezeichnet haben, zwei verschiedene Dinge sind. Dabei spielten auch politische Motive eine Rolle: Mit der Aufklärung, aber erst recht mit der Französischen Revolution kommt es zu einem Sturm gegen die katholische Kirche – der Galilei-Prozess wird zum willkommenen Vorzeigebeispiel für die Infamie der Kirche.

Worum ging es überhaupt beim Inquisitionsprozess gegen Galilei? Kopernikus hatte schon vor dem Florentiner ein heliozentrisches Weltbild vertreten, das das alte ptolemäische, geozentrische hätte ablösen sollen. Die Inquisition hatte gute Gründe anzunehmen, Galilei sei Kopernikaner. Für die Verteidigung des geozentrische Weltbildes verwies Kardinal Bellarmin auf eine Stelle im Buch Josua 10, wo es heisst: „Sonne, steh still zu Gibeon und Mond, im Tal Ajalon! Da stand die Sonne still und der Mond blieb stehen, bis sich das Volk an seinen Feinden gerächt hatte.“

Von heute aus gesehen ist die Alternative geozentrisches vs. heliozentrisches Weltbild gar keine Frage von Glauben und Wissen, was noch einmal Harrisons These – siehe den Blog über Peter Harrison -,  die Begriffe Wissen bzw. Wissenschaft und Glaube/Religion hätten sich im Laufe der Zeit verschoben, bestätigt.

Die historische Figur Galilei trägt demgegenüber Züge, die schwerlich mit dem Bild des Aufklärers vereinbar sind. Wie Niklaus Peter in seiner Kolumne für Das Magazin vom 3. Oktober 2020 erinnert hat, vermass Galilei 1587 in zwei Vorlesungen an der Florentiner Akademie über „die Gestalt, Länge und Grösse der Hölle“ auf der Grundlage von Dantes Divina Commedia die Hölle. Die von Dante so wirkmächtig beschriebenen Höllenqualen, auch die theologischen Fragen interessieren ihn nicht, er nähert sich der Sache mit der Haltung eines Landvermessers. In Anlehnung an Durs Grünbein dokumentiert dieser Text nach Peter das Auseinanderdriften eines rein quantifizierenden Denkens von einem qualitativen Zugang zur Welt, wie er in der Kunst und der studia humanitatis praktiziert wird. Allerdings deckt sich die Unterscheidung zwischen quantitativem bzw. qualitativem Zugang zur Wirklichkeit nicht mit derjenigen zwischen Glauben und Wissen, obwohl es heute gang und gäbe ist, das Wissen als Prärogative der quantitativ operierenden Wissenschaften zu betrachten.